Von der Schwierigkeit, heute noch Geschichten zu erzählen

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Herr Wilhelm S. ist Werkmeister in einem Zweigbetrieb eines internationalen Automobilbedarfs-Konzerns. Um seinen Lebensabend zu sichern und seinen Kindern etwas vererben zu können, schließt Herr S. eine Ab- und Erlebensversicherung ab. Natürlich entscheidet er sich für den Versicherungsvertrag, der ihm die höchste Rendite verspricht. Die Versicherungsgesellschaft legt das Geld des Herrn S., soweit sie es nicht in festverzinslichen Papieren binden muss, in Wertpapierfonds an. Natürlich wählt sie die Fonds, die ihr die höchste Rendite bieten. Die Fondsverwalter legen das Geld der Versicherungen in Aktien an. Natürlich wählen sie die Aktien, die den höchsten Wertzuwachs versprechen. Ein Konkurrenzunternehmen des Konzerns, für den Herr S. arbeitet, erzielt mit einer neuen Produktionsmethode Kosteneinsparungen. Darauf steigt der Kurs seiner Aktien. Entsprechend sinkt der Kurs der Aktien des Konzerns, für den Herr S. arbeitet. Dadurch wird es für den Konzern schwieriger, zu günstigen Bankkrediten zu kommen. Um den Kurs seiner Aktien wieder zu steigern, beschließt die Konzernleitung, ein Zeichen zu setzen. An mehreren Produktionsstandorten wird die Produktion gestrafft und Personal eingespart. Zusammen mit 500 anderen Kollegen erhält Herr S. die Kündigung. Der Aktienkurs steigt wie erwartet. Die Fondsverwalter legen das Geld ihrer Kunden wieder in Aktien dieses Konzerns an. Am Jahresende erhält Herr S. einen Brief seiner Versicherung, in dem ihm stolz die Höhe seiner diesjährigen Gewinnbeteiligung mitgeteilt wird.

Seine Ersparnisse hat Herr S. schon seit seiner Schulzeit in der örtlichen Sparkasse eingezahlt. Die Sparkasse wurde inzwischen von einer Bank gekauft, die Bank von einer größeren Bank und die größere Bank von einem internationalen Bankenkonzern. Herr S. hat seinen – inzwischen nicht unbeträchtlichen – Notgroschen noch immer bei dieser Bank angelegt. Die Bank vermehrt bekanntlich das Geld der Anleger, indem sie es gegen Zinsen verleiht. Unter anderem hat diese Bank schon vor Jahren größere Mengen von Anleihen der brasilianischen Regierung gekauft und bezieht daraus Zinsen, die sie – nach gewissen Abzügen natürlich – auch an Herrn S. weitergibt. Natürlich ist die Bank nur dann bereit, neue Anleihen der brasilianischen Regierung zu kaufen, wenn diese mit Zins- und Kapitalrückzahlungen nicht in Rückstand gerät. Entsprechenden Druck übt die Bank, ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor in mehreren Ländern, zusammen mit anderen Banken auf die jeweiligen Regierungen aus, damit diese entsprechenden Druck auf die brasilianische Regierung ausüben. Brasilien ist Mitglied eines internationalen Abkommens kaffeeexportierender Länder, das die Kaffeeexporte beschränkt und so den Kaffeepreis hochhält. Um seine Schulden bezahlen zu können, möchte Brasilien seinen Kaffeeexport erhöhen und eine größere Quote erhalten. Dieses Bestreben haben auch andere kaffeeexportierende Länder. Da es zu keiner Einigung kommt, wird das Abkommen nicht erneuert. Die kaffeeexportierenden Länder werfen ungehemmt Kaffee auf den Markt und die Weltmarktpreise für Kaffee verfallen. Da die kleinen Kaffeebauern keinen ausreichenden Preis für ihre Ware bekommen, suchen sie nach anderen Verdienstmöglichkeiten. In Kolumbien gibt Herr Jesus S. wie viele andere nun endlich dem Drängen eines Herrn Jeremy K. nach, statt Kaffee Kokasträucher anzubauen. Relativ billiges Kokain überschwemmt nun nicht nur den amerikanischen, sondern auch den europäischen Markt. Ein Herr Josef R. findet Geschmack an der aufpeitschenden Wirkung des Mittels und benutzt es regelmäßig. Um seinen Konsum zu finanzieren, übernimmt er den Vertrieb dieses und auch verwandter Produkte. Manuela, Tochter des Herrn S., in der durch die Entlassungen hervorgerufenen Stimmung am Ort in eine Sinnkrise geraten, lässt sich von Pit F., einem Kunden des Josef R. die erste Heroinspritze setzen.

Herr S., nunmehr im vorzeitigen Ruhestand, hält dennoch seiner Gewerkschaft die Treue. Diese reagiert auf die steigenden Aktienkurse mit der Forderung nach einer fünfprozentigen Lohnerhöhung. Sollte diese durchgehen, könnte die erhöhte Kaufkraft und die dadurch erhöhte Nachfrage zu einer Erhöhung der Preise führen. Um einer solchen inflationären Entwicklung zuvorzukommen, erhöht die deutsche Bundesbank die Kreditzinsen, um so von dieser Seite aus die allgemeine Nachfrage zu verringern. Um einen Kapitalabfluss zu verhindern, erhöht auch die Bank von Frankreich die Kreditzinsen. Japanisches Geld wird jetzt in Deutschland statt in Amerika angelegt. Durch den Liquiditätsengpass gezwungen, muss auch die Fed die Zinsen erhöhen. Ein weltweites Zurückgehen des Konsums ist die Folge. Herr Kwame L. von der Elfenbeinküste kann seinen Kakao nicht mehr verkaufen. Daher kann seine Tochter Sulima die Schule nicht mehr besuchen.

Landet sie nun als illegale Prostituierte in Frankfurt und steckt dort den Sohn des Herrn S. mit AIDS an? Aber nein. Sie landet als illegle Prostituierte in Khartoum und steckt dort einen arabischen Autohändler mit AIDS an.

Warum muss es denn immer den Herrn S. treffen?

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