Brian Ferguson: Ten Points on War vs. Johan Galtung: Violence, Peace and Peace Research

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Es erscheint fruchtbar, die höchst unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Autoren an das Thema Krieg und Frieden zu vergleichen, da beide erklären, mit ihrer Forschung zu einer friedlicheren Welt beitragen zu wollen und auch entsprechende Strategien vorschlagen. Ferguson ist Professor für Anthropologie an der Rutgers University (vgl. Rutgers University o. J.) und bezeichnet sein Fachgebiet als Anthropologie des Kriegs. Galtung ist Mathematiker, Soziologe und Politikwissenschaftler (vgl. Transcend o. J.) und bezeichnet sein Fachgebiet als Friedensforschung. Während Fergusons Artikel (Ferguson 2008) eine Zusammenfassung vierzigjähriger Forschung ist, entwirft Galtungs Artikel (Galtung 1969) ein Forschungsprogramm. Da aber wissenschaftstheoretische Prinzipien einem Forschungsprogramm vorangehen, ist es wohl gerechtfertigt, den Artikel zum Vergleich heranzuziehen.

Brian Ferguson: Ten Points on War

Die ersten beiden von Fergusons zehn Punkten dienen der Zurückweisung gängiger Vorstellungen darüber, dass Krieg „immer schon“ existiert hat. Punkt #1 misst die Theorie, dass der Mensch biologisch auf Krieg programmiert sei, an der empirischen Evidenz, und zwar am Beispiel der Yanomami. Ferguson beurteilt Theorien danach, ob sie „voraussagekräftig für tatsächliche Kämpfe“ („predictive of actual fighting“) sind (S. 33). Hier zeigt sich schon, dass Ferguson dem scientistischen Paradigma verpflichtet ist: Theorien müssen imstande sein, Voraussagen zu treffen, die empirisch überprüft und gegebenenfalls falsifiziert werden können. Ebenso weist er den Reduktionismus der biologischen Theorien zurück: „Maleness is one part of biology, biology is one part of aggressiveness, aggressiveness is one part of combat, and combat is one part of war. The explanatory potential of biology thus seems fundamentally limited“ (S. 34).

Punkt #2 stellt fest, dass Krieg kein unentrinnbarer Bestandteil sozialer Existenz ist (S. 34). Ferguson kritisiert methodologische Fehler, die Vertreter der biologischen Theorie bei der Beurteilung des archäologischen Befundes machen: unzulässige Extrapolation von Funden, die auf Krieg hinweisen, auf Zustände anderswo, wo es keine Evidenz für Krieg gibt; Vermischung späterer Befunde, die auf Krieg hinweisen, mit früheren Befunden, die keine solche Hinweise enthalten; Projektionen von historischen Situationen auf die die Frühzeit der Menschheit (S. 34). So wie andere Anfänge, z. B. der Tierzucht oder des Pflanzenbaus, lässt sich auch ein Anfang des Kriegs feststellen. Ferguson zählt sechs Vorbedingungen auf, die das Aufkommen von Krieg wahrscheinlich machen: „(l) sedentary existence, often following agriculture […]; (2) increasing population density; (3) social hierarchy; (4) trade, especially of prestige goods; (5) bounded social groups; and (6) serious ecological reversals.“ Hier wird der kulturmaterialistische Ansatz sichtbar, den Ferguson dann in Punkt 3 näher ausführen wird. Die ersten beiden Vorbedingungen betreffen die Infastruktur, drei, vier und fünf die Struktur der Gesellschaft und sechs wiederum die Infrastruktur. Daraus, dass Krieg in der Vergangenheit nicht immer existiert hat, zieht Ferguson den Schluss, dass er auch in der Zukunft nicht immer existieren muss, vor allem in fernerer Zukunft. Er bezieht sich auf Boas, Malinowski und Carneiro, die darauf hingewiesen haben, wie sich im Lauf der Zeit politische Einheiten konsolidieren, in deren Inneren Frieden herrscht, und meint, es gebe Grund anzunehmen, dass dieser Trend sich fortsetzt (S. 35). „People pushing for peace can shape what is to become“ (S. 36). Seinem scientistischen – also nomothetischen – Ansatz zum Trotz vertritt Ferguson keinen absoluten Determinismus. „Anthropology can effect a positive contribution by making it clear that there is no scientific basis for believing that a future without war is impossible“ (S. 36).

In Punkt #3 skizziert Ferguson die erste seiner zwei Forschungsstrategien, die zusammen sein Prinzip des modifizierten Kulturmaterialismus ausmachen. Sein materialistisches Prinzip lautet: „social life is essentially practical“ (S. 36). Das ist natürlich eine Kurzfassung von Marvin Harris‘ Definition: „Cultural Materialism is the strategy I have found to be most effective in my attempt to understand the causes of differences and similarities among societies and cultures. It is based on the simple premise that human social life is a response to the practical problems of earthly existence“ (Harris 1980: xv). In Übereinstimmung mit Harris‘ Ontologie betrachtet Ferguson soziokulturelle Phänomene in den drei Dimensionen Infrastruktur, Struktur und Superstruktur.

In Punkt #4 (S. 37) modifiziert Ferguson den holistischen Ansatz: Variationen in realen Kämpfen können verstanden werden als Ergebnis davon, dass diejenigen, die Entscheidungen über Krieg und Frieden treffen, im Rahmen historisch wechselnder materieller Umstände ihre Eigeninteressen verfolgen. Generell nimmt beispielsweise die Häufigkeit von Kriegen ab, wenn (etwa durch Epidemien) der Bevölkerungsdruck nachlässt. Dies wäre also die Wirkung einer Änderung der Infrastruktur. Wer aber wen zu welchem Zeitpunkt angreift, hängt oft von den Eigentinteressen der Entscheidungsträger ab. Ferguson nennt das eine „verhaltensbezogene etische Herangehensweise“ („etic behavioral approach“), basierend auf dem, was Menschen tun, nicht, was sie sagen (S. 37). Dabei stellt er – am Beispiel der Yanomami – fest, dass in den Debatten, die einem Krieg vorausgehen, Menschen, die eine bestimmte Handlungsweise befürworten, dabei ihre Eigeninteressen in die höchstmöglichen moralischen Werte übersetzen. Sie beziehen sich auf die superstructure (Religion, Tradition, moralische Bewertungen wie Mut oder Feigheit usw.) um ihre materiellen Interessen zu verschleiern. Ausdrücklich nennt Ferguson cognitive dissonance theory als Erklärungsmodell. Er bezieht also methodologisch ein individualistisches, psychologisches Element mit ein. Man könnte das so deuten, dass er die Psychologie als eine Art Transmissionsriemen betrachtet, der die Individuen dazu bringt, das zu tun, was für den gesellschaftlichen Organismus erforderlich ist.

In Punkt #5 untersucht Ferguson die Rückwirkungen von Krieg auf die Gesellschaft. Das heißt, er betrachtet Krieg nicht nur als Explanandum, sondern auch als Explanans, die Kausalität funktioniert in beide Richtungen. Krieg kann sowohl auf die Infrastruktur zurückwirken (Bevölkerungszahl, Geburtenrate, Zerstörung von bebaubarem Land, Erschließung von Neuland), auf die Struktur (gender relations, kinship relations, stratification systems) als auch auf die Superstruktur (Erziehung, Werte, Moral) usw. (S. 38–39).

Punkt #6 untersucht Kausalitäten im Netzwerk größerer Systeme von Supermächten, Staaten und Stammesgesellschaften.

Punkt #7 setzt sich mit der Auffassung auseinander, Kriege würden verursacht durch die angeborene Tendenz zum Gruppenzusammenhalt und zur Feindschaft gegenüber fremden Gruppen. Dem setzt er den empirischen Befund entgegen, dass Gruppierungen meistens erst im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg entstehen. „Wir“ und „sie“ sind ideologische Konstrukte. Insbesondere Gruppierungen nach ethnischen oder religiösen Gesichtspunkten sind ideologische Verschleierungen materieller Interessen. Allerdings entwickeln so konstruierte Identitäten auch Eigendynamik, weshalb Ferguson für das komplexe Zusammenspiel die Bezeichnung „Identerest“ prägt (S. 42).

Punkt #8 lautet pointiert „Krieg ist eine Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln“ (S. 43). Das bedeutet nichts anderes, als dass innerhalb einer politischen Einheit unterschiedliche Gruppierungen bestehen, die unterschiedliche Interessen bezüglich Krieg oder Frieden haben, und dass mit Kriegen nicht nur außen- sondern auch innenpolitische Ziele verfolgt werden. So können Führer einen Krieg beginnen, um Geschlossenheit in den eigenen Reihen zu erzwingen.

Punkt #9: „Führer bevorzugen Krieg, weil Krieg Führer begünstigt“ (S. 44). Auch hier stellt Ferguson die Rolle von Individuen heraus. An dieser Stelle muss man sich natürlich die Frage stellen, ob solche Führer ihre Eigeninteressen auch dann durchsetzen können, wenn sie nicht mit den Interessen des gesellschaftlichen Organismus übereinstimmen. Ferguson sagt: „Farther up the societal scale, ‘chiefly ambitions’ has often seemed a necessary, even sufficient explanation for war“. Zumindest gelegentlich also sind die Ambitionen von Individuen Fergusons Ansicht nach doch mehr als nur „Transmissionsriemen“.

Punkt #10: „Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg“ (S. 46). Damit meint Ferguson, dass zum Frieden nicht bloß gehört, dass eben gerade kein kriegerischer Konflikt stattfindet, sondern dass Konflikte mit friedlichen Mitteln gelöst werden. És stellt sich die Frage, ob Ferguson hier dem scientistischen Prinzip treu bleibt. Zumindest müsste die Frage nach der Natur von „Konflikten“ gestellt werden, beziehungsweise nach dem Charakter der gesellschaftlichen Organismen, die miteinander in Konflikt geraten. Wenn Tiere gleicher (oder auch unterschiedlicher) Spezies um Ressourcen wie z. B. Weidegründe konkurrieren, wird der Konflikt meist durch Ausweichen gelöst. Wenn aber ein Hai eine Robbe fressen möchte, kann man hier von einem Konflikt zwischen Hai und Robbe sprechen? Und wie könnte ein solcher Konflikt friedlich gelöst werden? Für Konflikte um Ressourcen können friedliche Lösungen gefunden werden. Wenn zwei Gruppen beispielsweise um Wasser konkurrieren, das sie für die Bewässerung ihrer Felder benötigen, könnte die Einführung wassersparender Methoden (z.B. Röhren, aus denen kein Wasser verdunstet, statt offener Gräben,) den Konflikt lösen. Die Konkurrenz um Erdöl kann durch die Einführung nachhaltiger Energiequellen beendet werden. Das wären bewusst herbeigeführte Veränderungen der Infrastruktur. Wie aber, wenn ein gesellschaftlicher Organismus auf Grund seiner inneren Struktur expansiv und kriegerisch ist? Ein mittelalterliches Sultanat, das sowohl ökonomisch als auch militärisch auf Sklaverei aufgebaut ist, muss auf Grund seiner inneren Struktur ständig Kriege führen, um Nachschub an Sklaven zu erhalten. Ein hoch entwickeltes kapitalistisches System, in dem immer mehr produziert wird, als die Kaufkraft der Massen aufnehmen kann, muss ständig bestrebt sein, fremde Märkte zu erschließen, sowohl auf Kosten weniger entwickelter Volkswirtschaften als auch auf Kosten konkurrierender entwickelter Systeme.

Wenn Carneiro, auf den sich Ferguson in Punkt #4 bezieht, von einer möglichen Entwicklung zu einem Weltstaat spricht, der das Ende von kriegerischen Auseinandersetzungen bedeuten würde, dann tut er das auf Grund einer falsifizierbaren Theorie über das Wachstum gesellschaftlicher Organismen (vgl. Carneiro 2004). Wenn Fergusons Forderung nach friedlicher Konfliktlösung die Annahme impliziert, dass alle Konflikte im Prinzip friedlich lösbar sind, dann fehlt ihr die theoretische Basis.

Abschließend beschreibt Ferguson, was Anthropologen beitragen können, um Kriege zu vermeiden. Er nennt das „the protest route“: „It involves calling attention to the interests of the powerful, dissecting militaristic propaganda, and dispelling the pervasive myth that war is to be assumed because humans are inherently warlike and thus war will always be with us“ (S. 47). Die Eigeninteressen von Individuen oder Untergruppen („interests of the powerful“), die in Punkt #4 als modifizierende Variablen beschrieben werden, scheinen hier nun zur eigentlichen Ursache von Kriegen zu werden. Denn die vorgeschlagene Strategie der Dekonstruktion militaristischer Propaganda könnte überhaupt nur dann erfolgversprechend sein, wenn der Krieg tatsächlich nur den Interessen der Mächtigen dient und nicht auch im Interesse der Masse der Bevölkerung ist. Interessanterweise hat gerade Galtung in seinem Artikel über Imperialismus darauf hingewiesen, dass dies nicht der Fall sein muss und dass in einem imperialistischen System auch die „Peripherie“ (also die Masse der nicht Herrschenden) der zentralen Macht an die Interessen ihres „Zentrums“ (der herrschenden Schicht) gebunden ist (vgl. Galtung 1971: 84).

Johan Galtung: Violence, Peace and Peace Research

Galtung beginnt seinen Artikel mit einer Diskussion des Wortes „Frieden“ und einer vorläufigen Definition: „The term ‘peace’ shall be used for social goals at least verbally agreed to by many, if not necessarily by most“ (S. 167). Frieden wird also als ein Ziel definiert, und damit wird schon klar, dass hier ein normatives Gedankengebäude errichtet werden soll. Wenn jedes zusammenhängende Gedankengebäude eine Theorie genannt werden kann, dann kann man auch von einer normativen Theorie sprechen. Das muss aber abgegrenzt bleiben von wissenschaftlicher Theorie, die nach empirisch überprüfbaren Kausalzusammenhängen und Verallgemeinerungen sucht.

Freilich können Normen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, allerdings nur in der Weise, die Kant als „hypothetischen Imperativ“ bezeichnet (vgl. Kant 2004: 30). Aus dem Sein folgt nach Hume kein Sollen (vgl. Hume 2003: 334). Aus den empirischen Erkenntnissen über Eisen lässt sich nicht ableiten, was man mit Eisen tun soll. Aber es lässt sich ableiten, was man mit Eisen tun kann und was nicht. Es lässt sich die Anwendung ableiteten: Wenn du Eisen in eine Form gießen willst, dann musst du es auf 1150°C erhitzen. Eine wissenschaftlich fundierte auf Frieden ausgerichtete Strategie könnte demnach mit Ekkehard Krippendorf die Form haben: „Wenn du den Frieden willst, verändere jene gesellschaftlichen Voraussetzungen, die bisher immer wieder zum Krieg geführt haben“ (zit. n. Ruf 2009: 46). Wenn also Gesetzmäßigkeiten erkannt werden können, die zum Krieg führen und wenn die Veränderbarkeit der ursächlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen gezeigt werden kann, dann könnte ein solcher hypothetischer Imperativ als wissenschaftlich fundiert gelten. Ob Frieden generell ein erstrebenswertes Ziel ist, kann wissenschaftlich nicht festgestellt werden. Es könnte höchsten empirisch festgestellt werden, dass (bzw. ob) die Mehrheit der Menschen sich Frieden wünscht, oder es könnte ein Schluss gezogen werden wie: Wenn die Menschheit sich nicht selbst vernichten soll, muss sie den Krieg überwinden. Die Frage stellt sich nun, ob Galtungs normative Theorie eine solche wissenschaftliche Fundierung hat, das heißt, ob sie auf Gesetzmäßigkeiten beruht, die gewissermaßen einen Hebel zur Abschaffung des Kriegs bieten.

Frieden, fährt Galtung fort, soll bestimmt sein als „die Abwesenheit von Gewalt“ (S. 168). Das soll die „weite Region sozialer Ordnungen [umfassen], in denen Gewalt nicht vorhanden ist („the vast region of social orders from which violence is absent“). „Within this region a tremendous amount of variation is still possible, making an orientation in favor of peace compatible with a number of ideologies outlining other aspects of social orders“ (S. 168). Es wird nicht klar, ob Galtung damit besehende oder vergangene Gesellschaftsordnungen meint, oder solche, die in der Vorstellung von politischen Reformern oder Revolutionären bestehen.

Wenn Frieden Abwesenheit von Gewalt bedeutet, dann muss natürlich bestimmt werden, was Gewalt ist. „If peace action is to be regarded highly because it is action against violence, then the concept of violence must be broad enough to include the most significant varieties, yet specific enough to serve as a basis for concrete action“ (S. 168). Die Definition soll also an die Erfordernisse konkreter Aktion angepasst werden. „As a point of departure, let us say that violence is present when human beings are being influenced so that their actual somatic and mental realizations are below their potential realizations.“ Einen Gewaltbegriff, der nur somatische Beeinträchtigung (wie Verletzung, Tötung) einschließt, hält er aus folgendem Grund für ungenügend: „ Highly unacceptable social orders would still be compatible with peace“ (S. 168). Der Begriff „Gewalt“ soll demnach alle nicht akzeptablen Gesellschaftsordnungen einschließen.

Hier werden also nicht verschiedene Phänomene der Wirklichkeit auf Grund gemeinsamer realer Eigenschaften einer Klasse zugeordnet, sondern die Gemeinsamkeit der dem Begriff untergeordneten Erscheinungen besteht – jedenfalls zunächst – darin, dass Galtung sie für inaktzepabel hält. Natürlich findet er auch einen logischen Zusammenhang: „Hence, an extended concept of violence is indispensable but that concept should be a logical extension, not merely a list of undesirables“ (S. 168) – doch der ist offenbar sekundär.

Galtung setzt nun fort mit der Ausdifferenzierung seines Gewaltbegriffs. Er unterscheidet zwischen physischer und psychischer Gewalt (S. 169), Beeinflussung durch Bestrafung oder Belohnung (S. 170), Gewalt mit Objekt oder ohne (mit Gewalt ohne Objekt ist die Möglichkeit zur Gewaltausübung gemeint, S. 170), und die bedeutendste, die Unterscheidung zwischen Gewalt mit oder ohne handelndes Subjekt. Das eine – Gewalt die unmittelbar durch eine handelnde Person ausgeübt wird – nennt er direkte oder persönliche Gewalt, das andere – Gewalt, die durch ein System, eine bestimmte gesellschaftliche Situation ausgeübt wird – indirekte oder strukturelle Gewalt (S. 170). Der Begriff der strukturellen Gewalt steht im Zentrum von Galtungs Überlegungen und wird in Schriften über Galtung immer wieder als zentraler Begriff genannt. Strukturelle Gewalt geht von einem System aus, wenn dieses Menschen daran hindert, ihre volles körperliches und geistiges Potential zu entwickeln, wenn es ihre Lebenszeit unter das historisch mögliche Maß verkürzt, ihre Gesundheit beeinträchtigt, ihre Konsummöglichkeiten, Bildungsmöglichkeiten einschränkt und so weiter. Mit anderen Worten: „In order not to overwork the word violence we shall sometimes refer to the condition of structural violence as social injustice“ (S. 171).

Natürlich haben direkte Gewalt und strukturelle Gewalt reale Gemeinsamkeiten, die sie einer einheitlichen Definition unterordnen lassen. „Violence is here defined as the cause of the difference between the potential and the actual“ (S. 168). Aber es lassen sich beispielsweise auch vielerlei Phänomene unter den Begriff „Wachstum“ subsumieren, von Zellwachstum bis Wirtschaftswachstum oder Gletscherwachstum. Gemeinsam ist all diesen Phänomenen, dass sie eine Ausdehnung von etwas sind, aber das Wachstum von Zellen und das Wachstum von Gletschern unterliegen völlig unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Es muss also gefragt werden, ob die verschiedenen Formen der Einwirkung auf Menschen, die Galtung unter dem Begriff „Gewalt“ zusammenfasst, nicht gänzlich unterschiedliche Ursachen, Wirkungen und Funktionen in der Gesellschaft – bzw. in unterschiedlichen Gesellschaften – haben.

Galtung geht allerdings auf Ursachen, Funktionen und Wirkungen auf die Gesellschaft gar nicht ein. Er definiert Gewalt nur von einem humanistischen Gesichtspunkt aus durch ihre Wirkung auf das Individuum, im Gegensatz zu Ferguson etwa, der die Rückwirkungen des Kriegs auf Infrastruktur, Struktur und Superstruktur einer Gesellschaft untersucht. Galtungs Gewaltbegriff ist also, obwohl er von Gewalt durch das System spricht, kein holistischer, sondern ein individualistischer. Insbesondere was „soziale Ungerechtigkeit“ angeht, müsste doch nach Ursachen und Funktion gefragt werden. „Ungerechtigkeit“ ist freilich ein wertender Begriff und kein analytischer. An anderer Stelle setzt Galtung soziale Ungerechtigkeit mit sozialer Ungleichheit, das ist: ungleicher Verteilung von Ressourcen und Macht, gleich (S. 175), also wäre nach Ursachen und Funktionen dieser Ungleichheit zu fragen.

Weiters unterscheidet Galtung zwischen beabsichtigter und unbeabsichtigter Gewalt. „This distinction is important when guilt is to be decided“ (S. 171). Schuld ist ist eine moralische Kategorie, die emisch wohl in jeder Gesellschaft vorhanden ist, sich aber etisch nicht verabsolutieren lässt.

Ausführlich wird dann eine Typologie persönlicher Gewalt aufgestellt, die auf der angewandten Technik beruht, vom Faustschlag bis zur Nuklearexplosion. Unter „persönlicher“ Gewalt wird hier alles subsumiert, was durch Personen anderen Personen angetan wird, von häuslicher Gewalt über persönliche Racheakte bis zu polizeilicher oder militärischer Gewalt. Die gesellschaftlichen Rollen von Tätern und Opfern, die Situationen, in denen Gewalt ausgeübt wird, all das spielt in dieser Typologie keine Rolle.

Was jetzt die strukturelle Gewalt betrifft, stellt Galtung fest, „[…] that the general formula behind structural violence is inequality, above all in the distribution of power […]“, und fragt nun, welche Faktoren die Ungleichheit aufrechterhalten (S. 175). Er identifiziert sechs Faktoren, von denen hier nur der erste beispielhaft genannt werden soll: „Linear ranking order – the ranking is complete, leaving no doubt as to who is higher in any pair of actors“ (S. 176). Von diesen Faktoren sagt er: „[…] social systems will have a tendency to develop all six mechanisms unless deliberately and persistently prevented from doing so“ (S. 177). Die sechs Faktoren mögen stabilisierende Faktoren für ein System der Ungleichheit sein (ein nicht eindeutiges Ranking wirkt natürlich destabilisierend), sagen aber nichts über die Entstehung von Ungleichheit und ihre Funktion. Galtung umgeht die Frage, ob ein hierarchisches System zu bestimmten Zeiten, bei einem bestimmten Stand der Produktivkräfte, nicht eben besser geeignet ist, die Ressourcen der Gesellschaft zu bündeln, als ein egalitäres, und darum eben die Fähigkeit hat, weniger effektive Systeme einzuverleiben. Ungleichheit beschreibt er als ungleiche Verteilung von „values“, zu denen Macht ebenso gehört wie Einkommen oder Gesundheit. Welche kausale Beziehungen zwischen diesen Werten bestehen, darauf geht er nicht ein. Und er geht auch nicht darauf ein, wie denn die zweite Hälfte des zuletzt zitierten Satzes („unless deliberately and persistently prevented from doing so“) realisiert werden soll. Was hält die Unterdrückten davon ab, das System daran zu hindern, stabilisierende Faktoren zu entwickeln? Nicht eben diese stabilisierenden Faktoren?

Die Entstehung von Ungleichheit wird nicht historisch untersucht. Stattdessen stellt Galtung fest: „people, when left to themselves in isolation (in a discussion group, stranded on an isolated island, etc.) will tend to form systems where rank, or differential evaluation of relatively stable interaction patterns referred to as status, will emerge“ (S. 179). Dem stellt er den hypothetischen Einwand entgegen, dass diese Menschen schon so sozialisiert seien. Und er antwortet sich selbst: „Maybe, but, we also suspect that the reasoning above holds true even under tabula rasa conditions because it probably is connected with the fact (1) that individuals are different and (2) that these differences somehow are relevant for their interaction behavior. Hence, special measures are needed to prevent the formation of feudal structures“ (S. 179).

Hier wird also Ungleichheit auf die Natur des Menschen zurückgeführt. Im Grunde ist das eine biologistische Sichtweise, auch wenn das Wort Biologie nicht genannt wird. Und es ist eine ahistorische Sichtweise, die nicht erklären kann, warum Menschen hunderttausende Jahre in egalitären Gesellschaften gelebt haben und es heute – bis auf ein paar Ausnahmen – nicht mehr tun. Haben sie damals „spezielle Maßnahmen“ ergriffen, um Ungleichheit zu verhindern (wie Christopher Boehm annimmt, vgl. Boehm 1999)? Wenn ja, warum später nicht mehr?

Schließlich sucht Galtung nach einer Norm, die den Frieden garantieren soll:

Imagine that the general norm were formulated ‘you shall act politically so as to decrease violence, taking into account both before and after levels of personal and structural violence’. A norm of that kind would be blind to possible differences in structural and personal violence when it comes to their potential for getting more violence in the future. But it would also condone action as long as there is any decrease, and only steer political action downwards on the violence surface, not lead to a systematic search for the steepest gradient possible, even
for a descent route hitherto unknown to man (S. 182 f.).

Die gewünschte Norm soll sowohl Abwesenheit von persönlicher Gewalt („negative peace“) als auch von struktureller Gewalt („positive peace“) beinhalten: „[…] the absence of structural violence is what we have referred to as social justice, which is a positively defined condition (egalitarian distribution of power and resources).“ Auch aus normativer Sicht könnte man nun fragen: Warum ist egalitäre Verteilung eigentlich erstrebenswert? Kann egalitäre Verteilung der Ressourcen beispielsweise die Überausbeutung der planetaren Ressourcen verhindern? Wäre es erstrebenswert, dass alle dasselbe Junkfood bekommen? Würde es genügen, dass alle denselben Zugang zu Bildung bekommen, wenn an den Schulen und Universitäten nur Unsinn gelehrt würde? Warum ist eine egalitäre Verteilung der Macht erstrebenswerter als die wohlwollende Diktatur eines Philosophenkönigs? Dass Gewalt (direkte und strukturelle) moralisch schlecht ist, begründet Galtung mit dem menschlichen Leid, das sie verursacht. Vom ethischen Standpunkt aus ist das nachvollziehbar. Aber dafür, dass er strukturelle Gewalt mit sozialer Ungerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit Ungleichheit gleichsetzt, bleibt uns Galtung die logische Begründung schuldig, nämlich den Nachweis, dass es unter Bedingungen der Gleichheit weniger Leid gäbe. Es ist offensichtlich, dass heute eine winzige Minderheit in Luxus, eine größere Minderheit in Wohlstand, die Mehrheit in Armut lebt und hunderte Millionen hungern. Aber müssen hunderte Millionen hungern, weil sie nicht gleich viel haben wie die anderen, oder weil sie zu wenig haben, unabhängig davon, wie viel die anderen haben?

Abschließend deutet Galtung kursorisch einige konkrete Handlungsmöglichkeiten an, von nonviolent action bis zu Abrüstungsverhandlungen. Deren Ausarbeitung stellt er für spätere Publikationen in Aussicht.

Zusammenfassung

Fergusons Ontologie ist materialistisch: „Social life is essentially practical“. In seiner Ontologie existieren politische Einheiten (Staaten, Stämme, Dorfgemeinschaften etc.) die durch gemeinsames Handeln gegenüber anderen politischen Einheiten gekennzeichnet sind. Sie sind eingebettet in ein ökologisches Umfeld und sind nach den Dimensionen Infrastruktur, Struktur und Superstruktur beschreibbar. Innerhalb dieser politischen Einheiten existieren Untergruppierungen und Individuen mit eigenen Interessen, die auf das Handeln der politischen Einheit Einfluss nehmen. Diese politischen Einheiten stehen zueinander in Beziehungen von Konkurrenz oder Bündnissen, von Über- und Unterordnung.

Galtung geht von der idealistischen Voraussetzung aus, dass ethische Normen die Veränderung von Gesellschaft bewirken können. In seiner Ontologie existieren Phänomene wie „Gewalt“ und „Frieden“. Gewalt unterteilt er in „direkte“ oder „persönliche“ und „indirekte“ oder „strukturelle“ Gewalt. Sie ist definiert auf Grund ihrer Wirkung auf Körper, Geist und Seele: als die Ursache dafür, dass Menschen nicht ihr volles somatisches (physisches) und psychisches Potential entwickeln können. Dies gilt unabhängig von der historisch konkreten Gesellschaftsform und umfasst als Subjekte und Objekte sowohl Individuen als auch Gruppen, Staaten, Nationen. Der zweite bedeutende ontologische Gegenstand ist „Frieden“, definiert als die Abwesenheit sowohl von direkter Gewalt (negativer Frieden) und struktureller Gewalt (positiver Frieden). Frieden ist weiters definiert als soziale Gerechtigkeit, die wiederum mit Gleichheit gleichgesetzt wird. Die Dimensionen von Frieden sind intrapersonaler (innerer) Frieden, interpersonaler Frieden, gesellschaftlicher Frieden (zwischen Gruppen innerhalb der Gesellschaft) und internationaler Frieden (zwischen Gesellschaften), jeweils ohne historischen Bezug. „Gewalt“ und „Frieden“ erscheinen so als Konzepte, die unabhängig von Zeit und Raum existieren, als platonische Ideen.

Epistomologisch ist Ferguson dem scientistischen Prinzip verpflichtet, das sich in den Worten von Marvin Harris so zusammenfassen lässt:

Thus cultural materialism shares with other scientific strategies an epistemology which seeks to restrict fields of inquiry to events, entities, and relationships that are knowable by means of explicit, logico-empirical, inductive-deductive, quantifiable public procedures or ‘operations’ subject to replication by independent observers (Harris 1980: 27).

Seinen epistemologischen Standpunkt beschreibt Galtung in Peace by Peaceful Means als eine Kombination von „empirischen“, „kritischen“ und „konstruktiven“ Ansätzen:

Empirical peace studies, based on empiricism: the systematic comparison of

theories with empirical reality (data), revising theories if they do not agree

with data—data being stronger, than theory.

Critical peace studies, based on criticism: the systematic comparison of

empirical reality (data) with values, trying, in words and/or in action, to

change reality if it does not agree with the values – values being stronger than

data.

Constructive peace studies, based on constructivism: the systematic

comparison of theories with values, trying to adjust theories to values,

producing visions of a new reality – values being stronger than theory. (Galtung 1996: 9 f.).

Diesen Eklektizismus begründet Galtung damit, dass Friedensforschung angewandte Wissenschaft sei:

Thus, in peace studies the values lumped together under the heading of ‘peace’ have the upper hand, directing the construction of the theories used to account for data. Yet the data also have the upper hand, since theories are used to account for them. How can they both have ‘the upper hand’? Because peace studies, like any other applied science, is based on the conviction that the world is changeable, malleable, at least up to a certain point (Galtung 1996: 10).

Nun sind sicherlich in dem behandelten Aufsatz empirische Beobachtungen enthalten, aber eine empirisch überprüfbare und falsifizierbare Theorie ist hier nirgends dargelegt oder auch nur als vorläufige Hypothese angelegt.

Methodologisch verbindet Ferguson eine holistische Betrachtungsweise mit einer Individualistischen.

Sowohl Galtungs Gewaltbegriff wie auch der daraus abgeleitete Friedensbegriff sind methodologisch individualistisch, von der Wirkung auf Personen als Individuen her bestimmt. Auch der Begriff der strukturellen Gewalt, der ja Gewalt durch ein System meint, ist nur von der Wirkung auf Individuen her bestimmt.

Theoretisch sucht Ferguson Kausalzusammenhänge ausgehend von der Infrastrukur auf die Struktur und die Superstruktur von soziokulturellen Einheiten, aber auch Rückwirkungen sowohl von der Superstruktur (Identerest) als auch von den Einzelinteressen von Untergruppen und Individuen.

Galtung bezeichnet Peace Studies als angewandte Wissenschaft. Jedoch nach Variablen, die praktisch beeinflusst werden können, und deren Veränderung dann eine Veränderung der Gesellschaft hin zum gewünschten Ergebnis führen könnte (wie das Erhitzen des Eisens zur gewünschten Formbarkeit), wie man es von einer angewandten Wissenschaft erwarten sollte, wird hier nicht gesucht. Implizit wird davon ausgegangen, dass, wenn man die Menschen nur von den richtigen Normen überzeugen könnte – auf verschiedenen Ebenen, von der Friedensbewegung von unten bis zur Politikberatung oben – sie dann auch das richtige tun werden. Wir haben es mit einem ethisch-normativen Handlungsvorschlag zu tun, der sich an die gesamte Menschheit richtet.

Auch Ferguson bietet Handlungsvorschläge. Während Galtung auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft in Richtung Egalität abzielt, geht es Ferguson um die Vermeidung konkreter Kriege durch friedliche Konfliktlösung und Dekonstruktion von Identerest und militaristischer Ideologie. Doch zielt sein Handlungsvorschlag nur auf eine einzige beeinflussbare Variable, die aber nach seinen eigenen Darlegungen höchstens eine untergeordnete Rolle spielt, nämlich – genau wie Galtung – auf das Bewusstsein der Menschen.

Literatur

Boehm, Christopher (1999): Hierarchy in the forest. The evolution of egalitarian behavior. Cambridge, Mass: Harvard University Press. Online verfügbar unter http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&db=nlabk&AN=281926

Carneiro, Robert L. (2004): The Political Unification of the World. Whether, When, and How—Some Speculations. In: Cross-Cultural Research 38 (2), S. 162–177. DOI: 10.1177/1069397103260530.

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Galtung, Johan (1969): Violence, Peace, and Peace Research. In: Journal of Peace Research 6 (3), S. 167–191. Online verfügbar unter
http://www2.kobe-u.ac.jp/~alexroni/IPD%202015%20readings/IPD%202015_7/Galtung_Violence,%20Peace,%20and%20Peace%20Research.pdf

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Rutgers University (o. J.): Profile: R. Brian Ferguson. Online verfügbar unter https://www.ncas.rutgers.edu/r-brian-ferguson, zuletzt geprüft am 28.07.2017.

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