Antisemitismus ist keine Frage der Wahrnehmung, sondern eine Frage der Interessen

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Geplanter Beitrag zur Frage: “Wie soll die Sensibilisierung aller Schulangehörgen aussehen damit Antisemitismus erkannt und entgegen gewirkt werden kann” für die Konferenz der Österreichischen HochschülerInnenschaft “Confronting Antisemitism”

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Kein Mensch hat das Recht, den anderen zu tolerieren.
Amalie Taubels an Samuel Holdheim1

Dieser Beitrag untersucht Unterrichtsempfehlungen und Unterrichtsmaterialien zum Thema Antisemitismus, herausgegeben von: erinnern.at, OSZE, UNESCO, Yad Vashem, Leo-Baeck-Institut, Internationale Schule für Holocaust-Studien, Institut für Internationale Schulbuchforschung, österreichisches Bildungsministerium.

Zuvor ein Beispiel aus der Praxis, beschrieben in der FAZ vom 29. Juli 2018: Was erfahren 12- bis 13jährige im Anne-Frank-Zentrum Berlin über den Antisemitismus der Nationalsozialisten?

Paul [der Betreuer] notiert auf ein Flipchartpapier die Überschrift: „Ein ganz normaler Tag“. Er gibt den Schülern Edding-Stifte, mit denen alle auf das Blatt schreiben, was sie den Tag über so machen: duschen, frühstücken, ausschlafen, in die Schule gehen, Handy checken, Bus fahren, Zähne putzen, mit dem Hund rausgehen, Freunde treffen, Fußball spielen, Schwimmen gehen, Fahrrad fahren, einkaufen, in die Moschee gehen, tanzen, Katze füttern, Mindcraft spielen. Dann teilt Paul jedem Schüler drei Karten aus, auf denen jeweils eine Verordnung gegen Juden abgedruckt ist (Schmelcher 2018).

Und dann wird alles durchgestrichen, was auf Grund dieser Verordnungen den Juden untersagt ist. Fazit:

Schüler, die den Alltag jüdischer Kinder im Nationalsozialismus mit ihrem eigenen vergleichen, verstehen ohne große Belehrungen dies: Für deutsche Juden war seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 kein einziger Tag mehr normal (ebd).

Aber warum war das so? Weil die Nazis böse auf die Juden waren? Oder verrückt? Oder was?

Auch bei den Unterrichtsempfehlungen fällt auf, dass Antisemitismus generell nicht politisch betrachtet wird, sondern auf der Ebene von Individuen. In einem „Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen“, herausgegeben von der OSZE und Yad Vashem, wird Antisemitismus folgendermaßen definiert:

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.

Dies ist eine sozusagen offizielle Definition von Antisemitismus, es ist die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“, die später – 2016 – von der zwischenstaatlichen International Holocaust Remembrance Alliance angenommen wurde (IHRA 2016), an der auch Österreich teilnimmt. Antisemitismus wird also definiert als eine Wahrnehmung, als ein individuelles psychisches Phänomen, und nicht als soziales oder politisches Phänomen. Natürlich ist diese Wahrnehmung eine falsche und daraus ergibt sich logisch, dass man sie durch eine korrekte Wahrnehmung ersetzen muss, dass man also Vorurteile gegen Juden und Jüdinnen durch ein realitätsgerechtes Bild von Judentum und jüdischen Menschen ersetzen muss. Das drückt sich schon in den Titeln weiterer Broschüren aus, wie zum Beispiel Ein Mensch ist ein Mensch (Lichtblau/Ecker o.J.) oder Prejudice. You Too? (Mok et al., o.J.c). Ein typisches Zitat aus dieser Broschüre:

But one prejudice that goes back centuries still exists: the idea that Jews will do anything to be rich and powerful, even by tricky means. Uncovering and challenging this prejudice are central to combating anti-Semitism (S. 10).

„Antisemitismus“, heißt es weiter in dem Leitfaden der OSZE,

klagt Jüdinnen und Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um sie dafür verantwortlich zu machen, ‚wenn etwas falsch läuft’. Er drückt sich in Worten, in schriftlicher und visueller Form und in Taten aus und verwendet dazu unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge“ (OSCE, ODIHR, Yad Vashem, 2007: 3).

Es wird aber nicht gesagt, von wem Antisemitismus in dieser Weise benutzt wird. Von wem, zu welchen Zwecken, unter welchen Umständen!

Als Lernziele definiert der Leitfaden:

• antisemitische Stereotype und Denkweisen […] zu erkennen und abzulehnen. Hierdurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler antisemitische Sichtweisen annehmen, wenn sie mit solchen konfrontiert werden.
• zu lernen, andere Sichtweisen ggf. als unterschiedlich, aber grundsätzlich als gleichwertig anzusehen. Auf diese Weise werden sie motiviert, sich ihre Persönlichkeit anhand positiver Elemente aufzubauen, anstatt sich über eine negative Abgrenzung anhand antisemitischer Stereotype zu definieren.
• ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, dass jede Person gleichberechtigt und individuell behandelt werden muss. (OSCE, ODIHR, Yad Vashem, 2007: 7).

Und wenig später noch einmal:

Konzentrieren Sie sich auf die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens. Antisemitismus funktioniert über Stereotypisierung, Verallgemeinerungen und falsche Zuschreibungen. Zeigen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern anhand vieler verschiedener Beispiele die breite Palette jüdischen Lebens, um diese Verzerrungen auszugleichen. (OSCE, ODIHR, Yad Vashem, 2007: 10).

Erst spät im Text wird darauf eingegangen, dass Antisemitismus ein soziales Phänomen ist:

Zweifelsohne erfüllt Antisemitismus in sozialen Gruppenprozessen eine bestimmte Funktion: Er diente und dient bis heute als Vergemeinschaftungsmodus, der eine Gruppe nach außen abgrenzt. Anders gesagt konstruiert Antisemitismus ein Zugehörigkeitsgefühl, ein „Uns“, indem „die Juden“ aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. (OSCE, ODIHR, Yad Vashem, 2007: 13).

Doch welchem Zweck dient die Schaffung dieses „Uns“2? Welche gesellschaftlichen Gruppen sollen da zusammengeschlossen werden? Und warum braucht es überhaupt ein künstliches „Uns“? Das bleibt unbeantwortet.

Die Broschüre des Leo-Baeck-Instituts „Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht“ (Leo Baeck Institut 2011) kritisiert zu Recht, dass bei der Darstellung der Geschichte der Juden „der Antisemitismus, die Verfolgungsgeschichte und der Holocaust einseitig im Vordergrund“ stehen (S. V), und fordert einen Perspektivwechsel. Wie soll dieser aussehen? „Neben der unverzichtbaren Erinnerung an den Holocaust muss die ebenso unverzichtbare Erinnerung an die gemeinsame Geschichte in Europa stehen“ (S. VI). „Die Juden waren im Verlauf der Geschichte nicht nur Objekte, Verfolgte und Opfer, sondern auch Subjekte, d. h. aktive Bürger und kreative Gestalter von Kultur, Wirtschaft und Geschichte in Mitteleuropa“ (S. VI). Es wird betont, dass das Judentum zu den geschichtlichen Grundlagen unserer Kultur gehört, dass die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte ist, dass bis 1933 ein Drittel aller deutschen Nobelpreisträger Juden waren, dass die deutsch-jüdische Geschichte nicht mit dem Holocaust endet, dass deutsch-jüdische Geschichte auch eine Geschichte der Integration ist und von ihr auch für die Integration muslimischer und anderer Migranten gelernt werden kann (S. VIII).

Es ist wichtig, den bedeutenden Beitrag der jüdischen Geschichte zur deutschen Geschichte und den hohen Rang der jüdischen Kultur in unserem kulturellen Erbe zu erkennen. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für Verstehen, Achtung und Toleranz (S. VIII).

An all dem ist nichts Falsches. Aber etwas fehlt: Der Zusammenhang zwischen Verfolgungsgeschichte und Erfolgsgeschichte. Die stehen hier nur nebeneinander.

Auf die Darlegung der Kerngedanken folgen Kapitel zu wichtigen Abschnitten der Geschichte. Auch zu denen wäre einiges zu sagen. Doch am auffallendsten ist, dass im Kapitel über Nationalsozialismus und Holocaust nicht ein Wort über die Funktion der antisemitischen Propaganda und der darauffolgenden Vertreibung, Enteignung und Ermordung für die gesamten politischen Ziele der Nationalsozialisten gesagt wird, nämlich ihre Funktion für die Zerschlagung der Demokratie, der ArbeiterInnenbewegung, die Errichtung der Diktatur und den geplanten Eroberungskrieg (S. XXII-XXV).

In der Fassung von 2003 heißt es noch: „Antisemitismus war ein elementarer Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und des Parteiprogramms und wurde daher 1933 zum Prinzip der Regierungspolitik. Erstes Ziel war die Ausschaltung der Juden aus dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands“ (LBI 2003: 11). Der letzte Satz wurde in der Fassung von 2011 gestrichen (S. XXIII). Doch der Eindruck, dass die Vernichtung der Juden das einzige Ziel der Nazis war, bleibt bestehen.

Das Ziel all dieser Empfehlungen ist also, Vorurteile abzubauen, Stereotype zu entlarven, Toleranz und Empathie zu fördern. Die Geschichte der Juden wird als eine Abfolge von guten und schlechten Zeiten für die Juden gezeigt; betont wird, dass Juden nicht nur Opfer von Verfolgung waren, sondern dass auch Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit Christen und Muslimen möglich waren. Hervorgehoben werden die positiven Leistungen von Juden und Jüdinnen. Großer Wert wird auch auf die Darstellung der Vielfältigkeit jüdischen Lebens gelegt, um einem einseitigen Bild entgegenzuwirken. Doch in keinem der Dokumente wird die Frage gestellt, warum, unter welchen Bedingungen friedliches Zusammenleben möglich war, und warum, unter welchen Bedingungen jeweils dieses friedliche Zusammenleben unmöglich gemacht wurde.

Antisemitismus ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung. Antisemitismus hat gesellschaftliche Funktionen. Um Antisemitismus zu erkennen und ihm entgegenzuwirken müssen diese Funktionen erkannt werden. Es muss erkannt werden, welche Funktionen die Konstruktion von Identitäten und Minderheiten hat. Es muss erkannt werden, unter welchen Umständen Vorurteile politisch wirksam werden bzw. gemacht werden; wie irrationale Vorstellungen und Gefühle mit realen Interessen unterschiedlicher Gruppen zusammenhängen. Und da gibt es eben psychologische Bedürfnisse wie Zugehörigkeit durch Abgrenzung, Aggressionsableitung, einfache Welterklärung usw., aber auch konkrete materielle und Machtinteressen. In den Unterrichtsmaterialien ist jedoch fast nur von der subjektiven psychischen Verfasstheit der antisemitischen Individuen die Rede: „Ohne die Analyse der subjektiven Funktionalität des Antisemitismus sind dessen Erfolge nicht zu verstehen“ (Peham/Rajal 2011: 3) heißt es in einem Newsletter von Yad Vashem.

Die Konstruktion von Minderheiten erfüllt einen doppelten Zweck: Sie spaltet Gruppen, die gemeinsame Interessen haben, in Mehrheits- und Minderheitsangehörige und schwächt sie so. Und sie schließt Gruppen, die unterschiedliche Interessen haben, zusammen und erzeugt den Anschein, dass sie, die „Mehrheit“ gemeinsame Interessen haben. Sie erzeugt den Anschein, dass die Interessen der Eliten die Interessen der Mehrheit sind. (Dabei können auch zahlenmäßige Mehrheiten als minderwertige Gruppen konstruiert werden, z.B. Frauen oder die Bevölkerung von Kolonien.) Diese Konstruktionen ermöglichen dann Schuldzuweisungen, die Rechtfertigung von Ausbeutung (durch Besteuerung, Versklavung, schlechtere Bezahlung etc.), Beseitigung von Konkurrenz, Beraubung, Vertreibung und Ausrottung. Der Anthropologe Brian Ferguson nennt das Identerest:

An identerest group is an ad hoc amalgamation of different kinds of people who, in a given historical and political situation, come together to pursue common material and symbolic gain. An identerest conflict is one in which at least one such group targets what it perceives as another such group said to pose a collective threat (Ferguson 2003: 28).

Ferguson betont also den materiellen ebenso wie den symbolischen Gewinn.

Political entrepreneurs who seek to create a following will construct a message that appeals to the interests and identities of different kinds of people, and appeals to each person in different but congruent ways. Those who hear the call are likely to respond differently, according to how well the message plays to their total, compound sense of self and self-interest, and what potential for action is associated with who they are. Some will support from the sidelines, some will rush to the core, some will reject the message (Ferguson 2003: 28).

Und er zitiert den Politikwissenschaftler V. P. Gagnon: „The challenge for elites is therefore to define the interest of the collective in a way that coincides with their own power interests“ (Gagnon 1994: 135). Zur Bildung einer identerest coalition gehören noch zwei weitere Faktoren: Die Schaffung eines internen Sicherheitsdilemmas und Polarisierung (Ferguson 2003: 28-29).

Diese Analysen beziehen sich auf sogenannte „ethnische“ Konflikte in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs. Doch sie passen auf political entrepreneurs aller Zeiten, insbesondere auch auf den politischen Unternehmer Adolf Hitler und seine Kumpane.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Geschichte des Judentums. Zwei Fragen drängen sich auf:

Über Jahrhunderte wurden Juden im christlichen Europa verfolgt, vertrieben, beraubt und ermordet. Aber wie kommt es, dass sie nicht gänzlich vertrieben und ausgerottet worden sind?

Ganz einfach: Weil man sie gebraucht hat: Als Handwerker, als Kleinhändler, die die Waren aus den Städten zu den Bauern brachten, als Fernhändler, die Güter aus dem Orient in den Westen brachten, als Ärzte, als schreibkundige Gutsverwalter und Steuereinnehmer, als Geldverleiher und Bankiers, die den Fürsten das Geld für ihre Hofhaltung und ihre Kriege besorgten, als Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler.

Aber wenn Juden so nützlich für die Gesellschaft waren, warum hat man sie dann als Fremde verfolgt, warum hat man ihnen nicht die gleichen Rechte zugestanden wie anderen Menschen?

Ganz einfach: Weil sie als Fremde, als nur Geduldete, noch größeren Nutzen brachten. Weil man sie als Fremde leichter wieder loswerden konnte, wenn man sie nicht mehr brauchte, oder wenn man ihre Konkurrenz fürchtete, oder wenn man ihnen Geld schuldig war und es nicht zurückzahlen wollte, oder wenn man sich ihr Vermögen, ihre Häuser und Grundstücke aneignen wollte. Weil man von ihnen als Fremde dafür, dass man sie duldete, höhere Steuern verlangen konnte. Weil man ihnen als Fremde die Schuld an allem möglichen Unglück in die Schuhe schieben konnte, an der Pest, an verlorenen Kriegen, an Teuerung und Wirtschaftskrisen.

Die Menschen haben die Märchen über Ritualmorde, Hostienschändung oder Brunnenvergiftung nicht geglaubt, weil sie so unwissend waren, sondern weil sie ihnen in den Kram gepasst haben, weil sie keinen Nutzen davon gehabt hätten, sie infrage zu stellen.

Der Antijudaismus der Spätantike kann nicht verstanden werden ohne Zusammenhang mit den Machtinteressen der sich herausbildenden christlichen Staatskirche (Vgl. Brumlik 2009: 59-74, Stemberger 1987: 327-34). Das Judentum war eine ernsthafte Konkurrenz, darum wurden die Juden vom heiligen Kirchenvater Johannes Chrysostomos als Christusmörder diffamiert (vgl. Keller 1966: 123). Sogar bis ins Hochmittelalter betrachtete die Kirche das Judentum als ernstzunehmenden Rivalen und selbst Martin Luther fürchtete, dass seine Schäfchen, die nun das Alte Testament lesen konnten, zu den Juden abwanderten (Vgl. Brumlik 2009: 126). Die weltlichen Herrscher stellten die Juden oft unter ihren Schutz – und kassierten Schutzgeld dafür (Vgl. Ben Sasson 1981: 114–117). Sie hatten ein Interesse daran, dass Juden da waren, und sie hatten gleichzeitig ein Interesse daran, dass sie verfolgt wurden. Die Kreuzzüge sind ein Beispiel dafür, wie die Juden als „innerer Feind“ mit dem „äußeren Feind“ (den muslimischen Ungläubigen) in Verbindung gebracht wurden (Vgl. Brumlik 2009: 88-89). Die Kleiderordnungen für Juden (und auch Muslime) vom 4. Laterankonzil bis Maria Theresia zeigen, wie Juden durch die Jahrhunderte zu Fremden gemacht wurden (Vgl. Scheiner 2004). Friedrich der Streitbare siedelte Juden in Wien an, um die Wirtschaft zu fördern, Herzog Albrecht verlor den Krieg gegen die Hussiten, vertrieb aber wenigstens ihre angeblichen Verbündeten, die Juden, und konnte so doch noch einen politischen Erfolg vorweisen und sich außerdem bereichern. Kaiser Ferdinand stellte die Juden unter den Schutz des Hauses Österreich, damit sie mit ihren Steuern seinen Krieg gegen die Protestanten finanzieren konnten. Kaiser Leopold vertrieb sie aus Wien, weil sie angeblich für die Türken spioniert hatten, in Wahrheit, weil sie eine Konkurrenz für die Wiener Kaufleute waren. Doch als er Geld für den Krieg gegen die Türken brauchte, holte er den Juden Samuel Oppenheimer nach Wien, damit er ihm die Kredite verschaffte. Als Oppenheimer starb, zahlte der Kaiser die Kredite nicht zurück und Oppenheimers Nachkommen wurden in den Konkurs getrieben (Vgl. Lohrmann 2007). Als Maria Theresia Krieg gegen Preußen führte, ließ sie die Juden aus Böhmen ausweisen, weil sie angeblich die Preußen unterstützten, und ein paar Jahre später holte sie sie wieder, weil die Wirtschaft darniederlag. Und natürlich kassierte sie dafür Sondersteuern von ihnen (Vgl. Vocelka 2017). Einige gesellschaftliche Kräfte wollten also die Juden tatsächlich loswerden – vertreiben, bekehren oder ausrotten. Andere wollten die Juden zwar nicht loswerden, aber sie hatten kein Interesse daran, dass sie rechtlich gleichgestellt würden und dass die Verfolgung tatsächlich aufhörte. So wurden die Juden zu einer Verschubmasse, über die man nach Bedarf disponieren konnte. Erst das revolutionäre Bürgertum von 1848 konnte nicht gut gleiche Rechte für alle verlangen und die Juden davon ausnehmen. In Wien kämpften Juden an der Spitze der Revolutionäre, und am Grab der Märzgefallenen hielt der Rabbiner Mannheimer Seite an Seite mit dem katholischen Priester Füster die Grabrede. Doch die Gegner, allen voran die Kirchenzeitung, diffamierten die Revolution als – was sonst – eine jüdische Machination (Vgl. Häusler 1988: 63-64).

Um die Dialektik von Identerest verständlich zu machen, lohnt es sich, die Geschichte der Juden mit der Geschichte der Roma zu vergleichen: Es war gut, dass Roma da waren, denn man brauchte Schmiede, Kesselflicker, Erntearbeiter, Pferdehändler usw. Und es war gut, dass sie von Vertreibung bedroht waren, denn so mussten sie Waren und Arbeitskraft billiger verkaufen.

Die fanatischsten Verfolger sind nicht immer identisch mit den größten Profiteuren der Verfolgung. Es gibt Individuen, die aus psychologisch oder lebensgeschichtlich erklärbaren Gründen irrationale Aggression gegen „Andere“ hegen oder irrationale Angst vor ihnen haben. Es gibt Personen, die diese Individuen organisieren, ihre Aggressionen bündeln und schüren, um sich zu ihren Anführern zu machen. Das können Fanatiker sein oder auch zynische Karrieristen. Und es gibt Interessensgruppen, die die Fanatiker gewähren lassen, weil sie auf unterschiedliche Weise von der Verfolgung der Verfemten profitieren. Die deutsche Großindustrie hat Hitler nicht an die Macht gebracht. Doch als er an der Macht war, hat sie sich mit ihm arrangiert, weil sie Interesse an einem Eroberungskrieg hatte (Vgl. Tooze 2007: 22-23, 127-129). Im Identerest fließen rationale und irrationale Strebungen zusammen. Die Idee von der „Herrenrasse“ war irrationaler Wahn. Doch rational denkende Menschen haben in ihre Geschäftsbücher geschaut und sich gesagt: „Gegen diesen Wahn haben wir nichts“.

Der Antisemitismus der Nationalsozialisten kann nicht verstanden werden ohne Zusammenhang mit dem Eroberungskrieg und der Errichtung der Diktatur. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob die Führer diese irrationale Stereotypen wirklich glaubten oder ob sie zynisch Lügen in die Welt setzten. Der Antisemitismus erfüllte verschiedene miteinander verbundene Funktionen: Schuldzuweisung für den verlorenen Krieg und die Wirtschaftskrise; die Spaltung der ArbeiterInnenbewegung, die Begründung für die Zerschlagung der linken Parteien, die alle als Teil der „Jüdisch-Bolschewistischen Verschwörung“ dargestellt wurden; Selbstdarstellung der NSDAP als Arbeiterpartei gegen das „jüdische“ Finanzkapital; Diffamierung der Demokratie als „Judenrepublik“ und Rechtfertigung der Diktatur; er war Teil der Herrenrasse-Ideologie, die den Raubkrieg rechtfertigen sollte; er konstruierte einen inneren Feind in Verbindung mit einem äußeren Feind, dem „Weltjudentum“ und sollte das „Volk“ gegen diesen Feind hinter dem Führer zusammenschließen. Die Beraubung der Juden half, die Kriegskasse des ständig am Rand der Zahlungsunfähigkeit stehenden Regimes aufzufüllen. Die Verdrängung der Juden aus Verwaltung und Wirtschaft und die „Arisierung“ diente aber auch dazu, einen großen Teil der Bevölkerung zu bestechen: durch die Entfernung der jüdischen Konkurrenz, durch die Freimachung von Wohnraum usw. Damit schuf sich das Regime Komplizen (Vgl. Mönninghoff 2001). Und gab ihnen einen Vorgeschmack auf spätere Bereicherungsmöglichkeiten im zu erobernden Osten. Auch in den von den Deutschen besetzten Gebieten konnten sich Teile der Bevölkerung an der Beraubung der Juden beteiligen und bekamen so einen Anreiz, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten (Vgl. Stengel 2007: 16). Doch in den Empfehlungen des Leo-Baeck-Instituts, in den Broschüren von Yad Vashem oder erinnern.at findet sich kein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus, Diktatur und Krieg. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden scheint das alleinige Ziel der Naziherrschaft gewesen zu sein – und bleibt so unerklärbar und mysteriös. „Der Holocaust war […] die praktische Konsequenz aus einem virulenten Antisemitismus“ heißt es im Leitfaden für PädagogInnen von OSZE und Yad Vashem (OSCE, ODIHR, Yad Vashem, 2007: 24). Nein, der Holocaust war die Konsequenz der antisemitischen Politik der Nazis. Auch im Holocaust selbst floss die Irrationalität mit rationalen Interessen zusammen. Fanatische Judenhasser konnten ihrem Wahn freien Lauf lassen, Sadisten und Sadistinnen sich ausleben, seelenlose Bürokraten Karriere machen, gewissenlose Wissenschaftler Experimente an Menschen anstellen, korrupte Funktionäre auf allen Ebenen sich bereichern. Doch der Holocaust war auch Teil des Plans, ganze Landstriche Osteuropas zu entvölkern, um Raum für deutsche Siedler zu schaffen, die dann die Kornkammer eines die Weltwirtschaft beherrschenden Reiches bewirtschaften sollten. Im Rahmen dieses Plans sollten auch 30 Millionen RussInnen dem Hungertod preisgegeben werden. Der gesamte Eroberungsfeldzug im Osten war völkermörderisch (Vgl. Heinsohn 2000: 420-421). Der Ermordung der Juden war die Ermordung der Kranken vorangegangen. Ein Verbrechen, geboren aus dem Rassenwahn, das aber eben auch 70.000 Krankenbetten für Soldaten freimachte (Vgl. Aly 1995: 53). Vorangegangen war auch die Ermordung von 60.000 Polinnen und Polen – auch jüdischen –, die das eroberte Polen führungslos machen sollte (Vgl. Wildt 2008: 146-147). Ebenfalls ein Verbrechen aus militärischer Ratio. Ist der Holocaust rational erklärbar? Nachdem die Nazis die Juden verleumdet, entrechtet, ihres Vermögens und ihrer Lebensgrundlage beraubt hatten, hätten sie da noch innehalten, umkehren können? Reichskommissar Bürckel schrieb 1938: „will man arisieren und dem Juden seine Existenzgrundlage rauben, dann muß man die Judenfrage total lösen. Ihn nämlich als Staatsrentner betrachten, das [. . .] ist unmöglich“ (zit. nach Safrian 1995: 36). Allerhand Aussiedlungspläne wurden gewälzt, sogar nach Madagaskar wollte man die Juden schaffen: „Die Juden sind uns wegen unseres Rassenstandpunktes feindlich gesinnt. Wir können sie daher nicht im Reich brauchen. Wir müssen sie beseitigen“, begründete der Chef des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich 1940 (AGK, SOP/154, 81.288, zit. nach Aly 1995: 11). Fast 100 Ghettoaufstände von Lodz bis Warschau zeigen, dass man die Juden nicht ewig einsperren und bewachen konnte (Vgl. Schoeps; Bingen; Bosch 2016: 4). Auch die Aus- und Umsiedlungspläne waren freilich Pläne zum Genozid (Vgl. Aly 1995: 33-35). Als sie scheiterten, begann der industrielle Mord in den Vernichtungslagern. Was mit politischer Hetzpropaganda begonnen hatte, endete mit der „Endlösung“.

Aber genügt es darzustellen, welches grauenvolle Ergebnis die Politik der Nazis für die verschiedenen „Opfergruppen“ hatte? Was Identerest ist, wird erst klar, wenn man auch die Folgen für diejenigen betrachtet, denen man gesagt hatte, dass sie die Herrenrasse seien. Entrechtet waren nicht nur die Juden. Entrechtet waren alle Menschen im Herrschaftsbereich der Nazis. Die bürgerlichen Freiheiten: Redefreiheit, Pressefreiheit, Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit und so weiter waren allen genommen worden, es gab keine Freiheit der Kunst und keine Freiheit der Wissenschaft. Eine Jugendkultur abseits der Hitlerjugend durfte es nicht geben. Jugendliche, die sich lässig kleideten, fürs Exerzieren nichts übrig hatten und statt Marschmusik lieber Swing hörten – die „Swing-Jugend“ oder „Schlurfs“ – wurden von der Gestapo, der Kriminalpolizei und der Fürsorge verfolgt. Ab 1943 war übrigens nicht nur Swing-Tanzen, sondern Tanzen generell verboten (Vgl. Rathgeb 2003: 134-140).

Ab 1938 verschlechterte sich der allgemeine Lebensstandard wieder. Die Löhne wurden zwar nicht gekürzt, aber es gab nicht viel zu kaufen, Lebensmittel waren rationiert, das Geld landete auf Sparkonten, die das Regime insgeheim plünderte (Vgl. Wildt 2008: 153). Jede Kritik am Regime, insbesondere Zweifel am Sieg der deutschen Truppen konnte bestraft werden, „versuchter Hochverrat“ mit dem Tod (Vgl. Wildt 2008: 161-162). Jeder sollte jeden bespitzeln, selbst Kinder ihre Eltern. Die ersten Opfer der Nazi- Ausrottungspolitik waren ja auch „reinblütige Arier“ – die Behinderten, unheilbar Kranken. Sogar schwerverwundete Soldaten des Polenfeldzugs waren unter den Ermordeten (Vgl. Heinsohn 2000: 413). Und schließlich waren 5 Millionen deutscher Soldaten getötet worden, eine halbe Million Menschen unter Bomben gestorben, hatten 14 Millionen Deutsche ihren Besitz ganz oder teilweise verloren, lagen 5 Millionen Wohnungen in Trümmern (Vgl. Wildt 2008: 207). In „Erziehung nach Auschwitz“ sagte Theodor W. Adorno: „Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe“ (Adorno 2012: 135). Doch ein drastisches egoistisches Interesse gibt es auch daran, sich zu fragen, ob es sich lohnt, sich den Verfolgern anzuschließen. Kein Zweifel: Für nicht wenige hat es sich trotz allem gelohnt. Viele haben ihre Posten, in die sie auf Grund der Entfernung der jüdischen Konkurrenz aufgestiegen waren, auch nach dem Krieg behalten: An Universitäten, in der Justiz, in der Verwaltung und so weiter. Viele konnten ihre arisierten Wohnungen oder Geschäfte behalten. Aber die Mehrheit der Mitläufer und Mitläuferinnen, der Wegschauer und Wegschauerinnen, waren letzten Endes – auch wenn das nicht als Entschuldigung gelten kann – doch Betrogene. Sie haben ein Stück ihrer Menschlichkeit verkauft und dafür nichts bekommen.

Aufklärung über Antisemitismus wird allerdings nicht viel bewirken, wenn sie nicht in Zusammenhang mit heute virulenten Formen des Rassismus gebracht wird. Und da stehen derzeit Islamfeindlichkeit und Flüchtlingsphobie im Vordergrund. Wobei man statt Rassismus besser Identerest sagen sollte, denn die Unterscheidungen werden nicht nach Rassen getroffen, sondern nach „Kulturen“. Es gibt tausende Trennlinien, die man durch eine Gesellschaft ziehen kann – zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen, MuslimInnen und NichtmuslimInnen, BrillenträgerInnen und nicht BrillenträgerInnen. Man könnte aber auch eine Trennungslinie quer durch die Religionen ziehen: zwischen FundamentalistInnen und Liberalen. Oder quer durch die Parteien zwischen FanatikerInnen und Diskussionsbereiten. Oder zwischen reich und arm. Oder zwischen mächtig und – sagen wir – weniger mächtig. Die Frage ist nicht, welche Trennlinien „richtig“ sind. Die Frage, die gestellt werden muss, ist: Wer erklärt welche Trennlinien für bedeutsam und warum und wozu? Natürlich sollen wir uns fragen: Ist der Unterschied zwischen dir und mir wirklich so groß? Natürlich sollen wir Empathie für das Leid der Geflüchteten schaffen. Aber wir müssen auch nach der Funktion fragen. Die primitive Gleichung Ausländer=Moslem=Nicht integrationswillig, patriarchalisch und gewaltbereit bewirkt unter anderem, dass fast niemand auf die Idee kommt, die Tatsache infrage zu stellen, dass 15% der über 16jährigen in Österreich nicht wählen dürfen, weil sie keine Staatsbürger sind. Menschen, die zum größten Teil arbeiten und Steuern zahlen oder lernen und studieren. Und von denen die größte Gruppe übrigens Deutsche sind (Medien-Servicestelle 2017). Die Frage ist nicht nur: Ist das gerecht? Sondern auch: Ist das gut für unsere Demokratie? Der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte drückt auf die Löhne (Vgl. Schwaiger 2016). Doch dient die Propaganda gegen diesen Zuzug wirklich dem Schutz der inländischen ArbeitnehmerInnen, oder soll sie bloß erschweren, dass in- und ausländische ArbeitnehmerInnen sich gemeinsam zur Wehr setzen? Unter dem Vorwand, es gehe um die, „die erst kurz ins System einzahlen und sich ‚durchschummeln‘ wollen“, soll die Notstandsbeihilfe abgeschafft werden. Doch zum größten Teil würde das österreichische StaatsbürgerInnen und ältere Menschen treffen (Vgl. Vienna.at 2018).

Doch Islamfeindschaft und Flüchtlingsphobie sollen die EuropäerInnen auch gegen einen äußeren Feind zusammenschließen. Wenn ein FPÖ-Wehrsprecher fordert, man müsse in Nordafrika „mit militärischen Kräften einen Raum in Besitz nehmen“ um dort Anlandeplattformen für Flüchtlinge einzurichten (Vgl. Der Standard, 4.9.2018), dann ist das nicht die Phantasie eines pathologischen Militaristen. Im Dezember vorigen Jahres hat die EU nach langer Vorbereitung PESCO gegründet, die Permanent Structured Cooperation auf militärischem Gebiet. Dieses Bündnis verpflichtet alle Mitglieder – auch Österreich – zur Aufrüstung (Vgl. Bonvalot 2018). In einem Strategiepapier des European Union Institute for Defence Studies heißt es über die Interessenssphäre Europas:

In particular, Europeans should focus on improving their ability to temporarily project and even permanently extend their armed forces into the EU’s geographic zones of privileged interest. […] the Caucasus, the Wider North, the Middle East and North Africa – and, importantly, the regions bordering with them, from Sub-Saharan Africa to Central Asia and the Indo-Pacific (Missiroli 2013: 32).

Aber auch offensive militärische Operationen werden in Erwägung gezogen, zum Beispiel „um einen Bürgerkrieg in Zentralafrika zu beenden“ oder um „ein aggressives Regime im weiteren Nahen Osten in die Schranken zu weisen“ (Missiroli 2013: 33). Der politische Islam ist real und gefährlich. Aber sollte Europa jemals Krieg um Öl führen, wird sich das leichter rechtfertigen lassen, wenn es unter der Flagge des Kampfs gegen den politischen Islam geschieht.

In der 2016 beschlossenen Global Strategy for the European Union’s Foreign And Security Policy wird klar gesagt, worum es geht: „[…] ensuring open and protected ocean and sea routes critical for trade and access to natural resources” (European Union 2016: 41).

Und da müssen wir uns alle fragen: Wollen wir das? Wollen wir Krieg führen um Handelsrouten und Rohstoffe? Wie war das nun mit dem letzten Krieg?

Ist es also so, dass die mächtigen Eliten Europas den Rassenhass schüren, um uns auf einen neuen Krieg vorzubereiten? So einfach ist es natürlich nicht. Im Standard hat der Politologe Hans Vorländer kürzlich die jüngsten Vorgänge in Chemnitz mit einem Opfernarrativ erklärt: Die Zerstörung Dresdens im Krieg, die Abwicklung der Betriebe nach dem Ende der DDR, die Abwanderung der Agileren und Mobileren in den Westen, all das hätte zu einer latenten Kränkung geführt, die sich dann auf der Straße äußere (Vgl. Baumann 2018). Damit hat er den Boden beschrieben, auf dem die Saat des Hasses gedeihen kann. Doch es braucht auch noch jemand, der aktiv den Hass sät. Das sind in diesem Fall die political entrepreneurs der AfD. Und dann gibt es die, die die political entrepreneurs aus dem Hintergrund finanzieren. Und dann die, die sie einfach nur gewähren lassen. Die vielleicht eindämmen, aber nur halbherzig. Die nichts tun, um den Bürgern ihre irrationalen Ängste zu nehmen, indem sie für Aufklärung sorgen. Die nichts dagegen haben, dass all die Stereotypen über primitive Afrikaner, die verbreitet werden, es gewissermaßen als gerechtfertigt erscheinen lassen, dass Afrika abhängig bleiben soll als Lieferant billiger Rohstoffe und Abnehmer teurer Industriewaren. Nichts tun, wenn man etwas tun könnte, auch das ist Machtausübung.

Solche Zusammenhänge zu diskutieren – heißt das nicht, sich allzu weit vorzuwagen? „Aller politische Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, dass Auschwitz nicht sich wiederhole“, hat Adorno gefordert. „Dazu müsste er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat“, und zwar: „ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen“ (Adorno 2012: 135) .

Es genügt nicht, dass junge Menschen unterschiedlicher Identitäten einander kennenlernen und falsche Vorstellungen voneinander abbauen. Sie müssen sich ernstlich mit der Frage auseinandersetzen: „Geht es mir besser, wenn es dir schlechter geht?“ Die Jugendlichen müssen sich fragen, ob sie gemeinsame Interessen haben, nämlich existenzielle Interessen, nicht nur Hobbys und Musikgeschmack. Wer profitiert wirklich, wenn eine oder einer von uns benachteiligt, entrechtet wird? Wem nützt es, wenn du und ich nicht in derselben Gewerkschaft, in derselben Partei tätig sein sollen? Was droht dir und mir in einem Staat, in dem die Menschenrechte nicht gelten? Welche Konsequenzen hat es für dich und mich, wenn die Demokratie eingeschränkt wird? Können wir globale Probleme wie den Klimawandel, die Verschmutzung der Meere oder das weltweite Artensterben lösen, wenn die Völker, Staaten, Kulturen oder was auch immer gegeneinander statt miteinander arbeiten? Muss Afrika wirklich arm bleiben, damit Europa reich bleibt? Müssen wir Krieg um Öl führen, oder können wir uns vom Öl unabhängig machen? Und: Könnte ich die oder der nächste Verfolgte sein? Oder kann mir nichts passieren, weil ich ja nicht zu denen gehöre? Nur wenn Menschen ihre gemeinsamen Interessen erkennen, haben sie auch ein Interesse daran, einander vorurteilslos zu begegnen anstatt einander zu bekämpfen.

Literatur

Adorno, Theodor W.. 2012: Erziehung nach Auschwitz. In: Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer und Albert Scherr (Hg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Wiesbaden: Springer VS (Bildung und Gesellschaft): 125–136.

Aly, Götz. 1995: “Endlösung”. Frankfurt am Main.

Archiwum Głównjej Komisji Badania Zrodni Hitlerowskich w Polsce (AGK) zit. nach: Aly, Götz. 1995: “Endlösung”. Frankfurt am Main.

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1 Kobler 1938: 66.

2„Uns“ ist eine schlechte Übersetzung des englischen „Us“. Es geht um die Schaffung eines „Wir“.

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