Gewalt gegen Minderheiten im Zeitalter der Globalisierung. Zur Rolle des Irrationalen in Arjun Appadurais „Fear of Small Numbers“ („Die Geographie des Zorns“)

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Abstract: Appadurai führt die Gewalt gegen Minderheiten in der Ära der Globalisierung auf pathologische, irrationale Strebungen wie „Angst vor der Unvollständigkeit“ der reinen nationalen Ethnie zurück. Demgegenüber wird argumentiert, dass irrationale Strebungen dann gesellschaftlich wirksam werden, wenn sie der Befriedigung realer Interessen von Teilen der Gesellschaft dienlich sind.

Appadurai stellt diesen Essay vor als zweiten Teil seines 1989 begonnen Projekts über die kulturelle Dynamik der Globalisierung, dessen erster Teil Modernity at Large (Appadurai 2005) war. In die­sem Buch will er nun die dunkleren Seiten der Globalisierung behandeln. Ins Zentrum stellt er die Frage, warum die Ära der Globalisierung auch eine Ära der Gewalt gegen Minderheiten, des Ethno­zids und Geno­zids ist, und ebenso eine Ära der Gewalt, die von Minderheiten ausgeht, nämlich in Form des Terro­rismus. In dieser kurzen Arbeit möchte ich nur untersuchen, wie Appadurai den er­sten Teil dieser Frage be­antwortet und welche Rolle er dabei irrationalen Strebungen zuweist.

Appadurai unterscheidet zwei Grundformen der Gewalt, die seit 1998 hervorgetreten sind. Die erste sind die Genozide und ethnischen Säuberungen in Jugoslawien, im Kaukasus, in Ruanda und Indi­en. Der zweite Typus sind Terroranschläge wie der gegen das World Trade Center 2001. Von den Ereig­nissen des ersten Typus sagt er, sie hätten gezeigt, „daß die Globalisierung pathologische Ele­mente im Kern der heiligen Ideologie der Nation und der nationalen Identität offenlegen könnte.“ (Appa­durai 2009: 13) Worin bestehen nun diese pathologischen Elemente? Der moderne National­staat be­ruhe auf der gefährlichen Idee des „nationalen Ethnos“. Kein sich noch so multikulturell ge­bärdender Nationalstaat käme ohne die Vorstellung aus, seine Souveränität gründe sich auf eine Art ethni­schen Geist. Die Globalisierung würde diese Idee bedrohen, indem sie die Grenzen zwischen „uns“ und „ihnen“ verwischt, indem sie die Unsicherheit, was nationale Zugehörigkeit bedeutet, wachsen lässt. Nationalstaaten würden in dieser Zeit „wie die letzten Dinosaurier verzweifelt um ihr Leben kämpfen“ (Appadurai 2009: 35)1. Die Gewissheit, dass unverwechselbare, einzigartige Völ­ker aus klar abgegrenzten nationalen Territorien stammen und diese kontrollieren, sei durch die glo­bale Fluidität von Reichtum, Waffen, Menschen und Bildern ins Wanken geraten (vgl. Appadurai 2009: 19). Besonders die Fiktion der souveränen Volkswirtschaft sei zerstoben, und so bliebe heute nur noch das Feld der Kultur übrig, „um Phantasien der Reinheit, der Authentizität, der Grenzen und der Sicherheit auszuleben“ (Appadurai 2009: 37).

Minderheiten nun würden die ethnische Reinheit des Nationalstaats gefährden. Der Begriff der Minderheit hätte seinen Ursprung in der Welt der Parla­mente, Gerichte, Stadträte, wo es um den Schutz der Rechte bzw. Meinungen von vorübergehenden „prozeduralen“ Minderheiten gegangen sei. Diese Schutzwürdigkeit sei nun auf permanente kultu­relle Minderheiten übertragen worden, und dies sei ein wichtiger Grund für die ambivalente Hal­tung, die man in ganz unterschiedlichen Demokratien Minderheiten gegenüber eingenommen hat. Appadurai sagt weiters, „daß sowohl Min­derheiten als auch Mehrheiten Produkte einer durch und durch modernen Welt der Statistiken, Volkszählungen, Bevölkerungskarten und anderer staatlicher Instrumente sind, die es im großen und ganzen erst seit dem 17. Jahrhundert gibt“ (Appadurai 2009: 56). Es fragt sich, wie Appadurai das wohl meint. Minderheiten wie „Juden“2 oder „Zigeuner“ kennt Europa seit Jahrhunderten, lange be­vor es Nationalstaaten gab. Desgleichen die „Cagots“ in Süd­frankreich (vgl. Bériac1987), die „Karrner“ und „Jenischen“ in Tirol und der Schweiz (vgl. Schleich/Pescosta 2003) oder die „Tin­kers“ in Großbritannien (vgl. Helleiner 1995). Die „scheduled castes“, also förderungswürdigen Kasten sind sicherlich ein bürokratischer Begriff des modernen indischen Staates (übernommen von der britischen Kolonialverwaltung), aber unberührbare Kasten gibt es in Indien seit Jahrtausenden (vgl. Jalali 1993). Nicht nur Statistiken schaffen Minderheiten, auch Ghettos und Kleidervorschrif­ten, Acht-und-Bann-Erklärungen, abgesonderte Kirchenbänke oder Berufsbe­schränkungen. Wie dem auch sei:

Der Haß auf Minderheiten in einer zunehmend globalen Welt hat etwas ganz und gar Rätselhaf­tes. Rätselhaft ist, warum die zahlenmäßig relativ kleinen Gruppen, die dem Wort „Minderheit“ seine Bedeutung geben, und normalerweise politische und militärische Schwäche implizieren, Minderheiten nicht davor bewahren, zum Gegenstand von Furcht oder Haß zu werden. Warum muß man die Schwachen töten, foltern oder in ein Ghetto sperren? (Appadurai 2009: 65)3

Und er fährt fort: „Diese Frage hätte man in der Geschichte immer wieder stellen können, um dem Problem ethnischer Gewalt gegen kleine Gruppen auf die Spur zu kommen.“ (Appadurai 2009: 65) Also ist das Phänomen doch nicht so neu?

Appadurai zählt einige mögliche Antworten auf die Rätselfrage auf: Kampf der Kulturen, Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols, weltweite Betäubung unserer humanitären Reflexe durch die Überflutung mit medialer Gräuelberichterstattung, Zunahme des globalen Waffenhandels oder gar Korrektur der Überbevölkerung im Sinne von Malthus. Sie alle verwirft er. Minderheiten rufen laut Appadurai ein pathologisches Phänomen hervor, das er „Angst vor der Unvollständigkeit“ nennt:

Numerische Mehrheiten können gegenüber kleinen Gruppen gerade dann eine aggressive, ja mörderische Haltung einnehmen, wenn bestimmte (zahlenmäßig kleine) Minderheiten sie daran erinnern, daß es nur sehr wenige Menschen sind, deren Existenz sie daran hindert, ihren Status als Mehrheit auszubauen zu dem einer unbefleckten Gemeinschaft, zu einem makellos reinen na­tionalen Ethnos. (Appadurai 2009: 21)

In diesem Absatz sind es also „Mehrheiten“, die Angst vor der Unvollständigkeit haben. Jedoch, ei­nige Kapitel später:

Angesichts der in der Globalisierungslogik liegenden systematischen Beeinträchtigung nationa­ler wirtschaftlicher Souveränität und des wachsenden Drucks, der dadurch auf Staaten lastet, sich als Treuhänder der Interessen eines territorial definierten und begrenzten Volkes zu gerieren, er­weisen sich Minderheiten in einer aus wenigen Megastaaten bestehenden Welt der ungeregelten Wirtschaftsströme und und beeinträchtigten Souveränitäten für viele Staaten selbst als geeignete Projektionsflächen für ihre Ängste vor der eigenen (wirklichen oder phantasierten) zahlenmäßi­gen Unterlegenheit oder Marginalität. (Appadurai 2009: 57–58)

Hier sind es also kleinere Staaten, die gegenüber den wenigen „Mega­staaten“ an einer Art Minder­wertigkeitskomplex leiden, und deshalb auf die Minderheiten in ihrem Inneren losgehen: „Minder­heiten sind, mit anderen Worten, Metaphern für und Zeichen der Erinnerung an den Verrat am klas­sischen nationalen Projekt.“ (Appadurai 2009: 58)

Da es schwer vorstellbar ist, dass Staaten an Ängsten leiden und Minderheiten als Metaphern und Projektionsflächen benutzen, muss man sich fragen, wen Apadurai hier mit „Staat“ meint: Das Staatsvolk? Die im Staatsapparat Beschäftigten? Die Politiker und Politikerinnen? Es lässt sich nicht wirklich fassen. Durch den ganzen Essay zieht sich eine Vagheit, die sich in Sätzen zeigt wie:

Allgemeiner gesprochen […] sind Minderheiten die Lunte an einem explosiven Cocktail aus Ver­unsicherungen, der sich zwischen dem Alltag und seinem schnell sich wandelnden globalen Hin­tergrund zusammenbraut. Wegen ihres gemischten Status schaffen sie Verunsicherung bezüglich des nationalen Selbst und der nationalen Staatsbürgerschaft. (Appadurai 2009: 59).

Indem er Hauptwörter gebraucht, schafft es Appadurai, von Verunsicherung zu sprechen, ohne zu sagen, wer verunsichert wird. Andere rhetorische Mittel, Dinge in der Schwebe zu lassen, sind häu­fig vorkommende Formulierungen wie: „hat zu tun mit“, „spielt eine Rolle“, „hängt zusammen mit“ usw., die Korrelationen herstellen, ohne sich auf Kausalitäten festzulegen.

Doch lesen wir weiter:

Natürlich hat auch jeder Fall von innerstaatlicher Gewalt gegen Minderheiten seine eigene ‚rea­listische‘ Soziologie: steigende Ansprüche, grausame Märkte, korrupte Staatsorgane, arrogante Interventionen von außen und ein tiefsitzender Argwohn oder Haß zwischen nationalen Bevölke­rungsgruppen, der nur darauf wartet, entfesselt zu werden. (Appadurai 2009: 58)

Sollen hier also doch noch handfestere Interessen ins Spiel gebracht werden? Ein wenig tautolo­gisch erscheint, dass hier der „Hass zwischen nationalen Bevölkerungsgruppen“ in die Reihe von Faktoren gestellt wird, die Gewalt und Hass gegen Minderheiten erklären sollen. Doch sie sollen es sowieso nicht wirklich, denn: „Aus diesen Elementen können wir nur die Charaktere des Dramas zusammenstellen.“ (Ap­padurai 2009: 58)

Um zu verstehen, warum Minderheiten eigentlich weltweit diesem Muster zum Opfer fallen, können wir auf das klassische anthropologische Argument von Mary Douglas zurückgreifen, daß ‚Schmutz etwas ist, das fehl am Platz ist‘; jede moralische oder soziale Taxonomie reagiert dem­zufolge allergisch auf alle Elemente, die ihre Grenzen verwischen (1966). (Appadurai 2009: 58)

Wir haben es hier also mit der Angst vor der Verunreinigung zu tun, die wir in diesem Fall wohl als irrational einstufen dürfen.

Sosehr die ‚Minderheiten‘-Gruppen in unseren nationalen Territorien auf die eine oder andere Weise auch gebraucht werden – und sei es nur, um unsere Toiletten zu putzen und unsere Kriege zu führen –, so wenig sind sie wegen ihrer anomalen Identitäten und Bindungen anderer­seits willkommen. In dieser doppelten Eigenschaft versinnbildlichen sie für viele Nationalstaaten das Grundproblem der Globalisierung: Sie ist ebenso notwendig […] wie unwillkommen. […] So ge­sehen wird in der globalisierten Gewalt gegen Minderheiten eine tiefsitzende Angst um das na­tionale Projekt und dessen ambivalentes Verhältnis zur Globalisierung ausagiert. Als gesichtslose Macht kann die Globalisierung nicht Opfer eines Ethnozids werden, Minderheiten aber sehr wohl. (Appadurai 2009: 59)

Hier ist es nun die rhetorische Form der Passivkonstruktion, die uns nicht verrät, wer da seine oder ihre Ängste ausagiert. Jedenfalls: Minderheiten versinnbildlichen also die Globalisierung und sie werden als Ersatzopfer umgebracht, weil man nicht die Globalisierung umbringen kann.

Wie lassen sich nun die konkreten Beispiele, die Appadurai am Anfang des Essays anführt, mit Hil­fe dieser Analyse erklären? Am ausführlichsten behandelt Appadurai die antimuslimischen Pogrome in Indien während der Herrschaft der hinduistischen Partei BJP. Die hinduistischen Nationalisten hätten den Muslimen vorgeworfen, sie seien der muslimischen Welt gegenüber loyaler als gegen­über Indien. Sie hätten die Muslime der sexuellen Unmoral und der Unterdrückung ihrer Frauen be­schuldigt. Sie hätten jede Erfüllung irgendeiner Forderung der muslimischen Gemeinschaft als „Be­schwichtigungspolitik“, als einen Schritt hin zur Kapitulation vor Pakistan hingestellt.

Der Beschwichtigungsdiskurs ist faszinierend, weil er sich genau auf dem abschüssigen Gelände zwischen dem Gefühl, eine Mehrheit zu sein, und der Enttäuschung unvollständiger Identifikati­on mit dem ungeteilten Ethnos des Gemeinwesens bewegt. (Appadurai2009: 93)

Appadurai bringt also den Beschwichtigungsdiskurs mit der Angst vor der Unvollständigkeit in Zu­sammenhang, aber es wird nicht klar, wer an dieser Angst leidet. Sind die Rechten selber von dieser Angst befallen oder schüren sie demagogisch diese Angst bei den Massen – oder beides? Allerdings erfahren wir einige Absätze davor, „daß die Idee einer hinduistischen Mehrheit in Wirklichkeit die numerische Minderheit der oberen Kasten verschleiert. Diese landbesitzenden Kasten haben […] einen Aufstieg der unteren Kasten nämlich weit mehr zu fürchten als die dortigen Muslime.“ (Appa­durai 2009: 91) Das klingt doch nach handfesten politischen und wirtschaftlichen Interessen und nicht nach einer pathologischen „Angst vor Unvollständigkeit“. Waren die 120.000 Hindus, die 2002 an den Pogromen gegen Muslime teilnahmen, eine numerische Mehrheit, die von der Minder­heit daran erinnert wurde, dass sie kein makellos reines nationales Ethnos waren? Gujarat hat 60 Millionen Einwohner. Der Spiegel schrieb mit Bezug auf den damaligen Chefminister von Gujarat und BJP-Führer:

Modis Polizisten und Bürokraten sollen bisherigen Untersuchungen zufolge die Pogrome tole­riert, wenn nicht angeheizt haben. Zum Teil feuerten die Uniformierten auf Muslime. Ein inter­ner EU-Bericht sprach vorige Woche sogar von geplanten politischen Aktionen. (Falk­sohn/Rao 2002: 162)

Könnten die Motive der Reinheit noch mit anderen Motiven verbunden sein? Helene Basu schreibt in ihrer Untersuchung über die riots:

Erfolg und Reichtum muslimischer Wirtschaftsunternehmer erregen Neid, der von Ideologen der hindu-nationalistischen Bewegungen als „gerechte Empörung“ über die „Ausbeutung von Hin­dus durch Muslime“ geschürt wird. Dies wird z. B. auf Flugblättern deutlich[…]. In einem sol­chen Pamphlet wird zum Boykott von muslimischen Wirtschaftsunternehmen aufgerufen; kleine und große muslimische Betriebe […] und ihre angeblichen Einkünfte werden aufgelistet, musli­mische Geschäftsleute als skrupellose Ausbeuter gebrandmarkt, die sich von vertrauensseligen Hindus unrechtmäßig „hinduistisches Geld“ aneignen, um zum Dank ihre Frauen zu vergewalti­gen und schließlich einen Glaubenskrieg zu führen. (Basu 2004: 238)

Das legt die Vermutung nahe, dass Menschen dann gerne einer irrationalen Reinheitspropaganda folgen, wenn sie ihnen die Möglichkeit verspricht, unliebsame Konkurrenz loszuwerden und sich vielleicht sogar unmittelbar am Eigentum der die Reinheit gefährdenden Minderheit zu bereichern.

Appadurai ist nicht der einzige, der Hass auf und Gewalt gegen Minderheiten mit irrationalen Stre­bungen erklärt. Eigentlich ist das ja eine gängige, populäre Erklärung. Kann man Hass auf Min­derheiten, Anti­semitismus, Antiziganismus etc. auch rational erklären? Das Beispiel der „Cagots“ könnte hier er­hellend sein. Diese Außenseitergruppe, die vom 13. bis weit ins 19. Jahrhundert hin­ein in Spanien und Frankreich diskriminiert wurde, unterschied sich nämlich weder in der Sprache, noch in der Re­ligion, noch im Aussehen, noch nach der Herkunft von der übrigen Bevölkerung. Die Cagots waren eine Minderheit einzig und al­lein, weil sie von der Mehrheit ausgeschlossen wurden. Sie durften nur in bestimmten Vierteln woh­nen, in der Kirche nur auf abgesonderten Plätzen sitzen und nur bestimmte Berufe ausüben, die mit Holzverar­beitung zu tun hatten: Sie waren hauptsächlich Zimmerleute. Natürlich wurden ihnen di­verse Laster angedichtet. Und sie waren bettelarm (vgl. Be­riac 1987). Das lässt darauf schließen, dass ihre Arbeit nicht gut bezahlt wurde. Und das lässt wie­derum schlie­ßen, dass bei de­nen, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, ein Interesse daran bestand, dass sie weiter Ausgestoße­ne bleiben sollten, weil Ausgestoßene eben nehmen müssen, was sie krie­gen.

Ähnlich verhielt es sich mit den „Zigeunern“, die 1487 auf dem Reichstag zu Lindau in die Reichs­acht getan wurden. 500 Jahre lang wurden sie verfolgt, trotzdem verschwanden sie nicht aus Euro­pa. Warum? Weil sie nützlich waren, weil sie in den Dörfern, die für sesshafte Handwerker keinen ausreichenden Markt boten, als Wanderarbeiter schmiedeten, reparierten, Holzwaren herstellten und so weiter (vgl. Djuric/Becken/Bengsch 1996). Und warum wurden sie weiter verfolgt, wenn sie doch nützlich waren? Weil sie als Ver­folgte, als Vogelfreie, noch nützlicher waren. Weil jemand, der eigentlich nicht da sein darf, sich für seine Arbeit mit dem bescheiden muss, was man ihm gibt. Ähnlich verhielt es sich mit den „Juden“.

Unbestreitbar spielten bei der Verfolgung all dieser Grup­pen irrationale Momente eine Rolle, xeno­phobe Ängste, von Generation zu Generation weitergege­bene Stereotypen, unhaltbare Vorwürfe. Doch um die Funktion dieser irrationalen Momente zu ver­stehen, genügt es nicht zu erforschen, wie sie entstanden sind. Es ist notwendig zu wissen, warum sie erhalten bleiben. Warum werden My­then nicht überprüft, Vorurteile nicht widerlegt, Ängste vor den Unbekannten nicht durch Kennen­lernen überwunden? Weil niemand sich davon einen Vorteil verspricht. Weil niemand ein Interesse daran hat. Für die christliche Kirche war das Judentum eine gefährliche Konkurrenz. Die Könige nahmen die Juden unter ihren Schutz – gegen entsprechende Zahlung. Sie hatten also kein Interesse daran, sie ihren übrigen Untertanen wirklich gleichzustellen. Seither ist die Geschichte der Juden in Europa eine Geschichte nicht von durchgängiger Verfolgung, sondern von Vertreibung und Wieder­ansiedlung, von Pogromen und teuer erkauften Privilegien (vgl. Brumlik 2009). Sie waren nützlich als Ärzte, Handwerker, Kaufleute und Bankiers, aber noch nützlicher dadurch, dass man sie als Fremde holen konnte, wenn man sie brauchte, und verjagen, wenn sie eine lästige Konkurrenz wa­ren, dass man sie mit Sondersteuern belegen oder einfach aus­rauben und enteignen oder im Be­darfsfall umbringen konnte. Warum also sollte jemandem daran gelegen sein, die Vorwürfe des Got­tesmordes, des Brunnenver­giftens, des Ritualmordes, der Spio­nage für den jeweiligen Feind oder der sexuellen Ungezügeltheit zu überprüfen? Erst das revolutio­näre Bürgertum von 1848 hatte – wenigstens zeitweise – ein Interesse daran.

Gewiss war der nationalsozialistische „Rassenwahn“ irrational und hatte seine fanatischen Gläubi­gen. Aber hätte er politisch wirksam werden können, wenn er nicht der Vorberei­tung eines neuen Eroberungskrieges dienlich gewesen wäre? Ging es der deutschen Industrie, die sich nach Hitlers Wahlsieg mit ihm arrangierte, um die „Logik der Reinheit“ (Appadurai 2009: 71)? War sie interes­siert an einem „Projekt des Deutschtums in den Begriffen der Ethnie oder Rasse“ (Appa­durai 2009: 71) oder hatte sie bloß nichts dagegen, weil die angestrebte Vorherrschaft des Germanentums ihr neue Märkte versprach? War die Masse der Deutschen und Öster­reicher, die Hitler mehr oder weni­ger willig folgten, von der „Angst vor der Unvollständigkeit“ ge­quält, oder hatte man sie nicht ge­ködert mit der Hoffnung auf Beseitigung der jüdischen Kon­kurrenz, mit der Hoffnung auf Bereiche­rung am jüdischen Vermögen, mit der Hoffnung auf Land im Osten, mit der Hoffnung auf eine flo­rierenden Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze in einem weltmarktbeherrschenden siegreichen Deutschland? „Von den 1933 bestehenden ca. 100 000 jüdischen Unternehmen im Deutschen Reich […] waren im April 1938 nur 40 Prozent noch nicht ‚arisiert‘“. (Mönninghof 2001: 13) Durch die Vertreibung der Wiener Juden und Jüdinnen wurde allein Wohnraum für 180.000 Menschen frei­gemacht. Handfeste Motive für eine Komplizenschaft, handfeste Gründe, eine Propaganda nicht in Frage zu stellen, die die Juden als „Problem für die Reinheit des arischen deutschen Blutes, für das fast vollkommene Pro­jekt eines national reinen und unbefleckten Ethnos“ (Appadurai 2009: 71–72) hinstellte. Auch der geplanten vollständigen Ausrottung der Juden kann man ein rationales Element nicht absprechen. Nachdem man sie in Deutschland und Österreich vollständig ausgeraubt hatte, nachdem die Vertreibung der noch verbliebenen nicht mehr möglich war, nachdem nun jeder Jude und jede Jüdin auf der Welt, der oder die Zeitung lesen oder Radio hören konnte, infolge einer selbsterfüllenden Prophezeiung nun ein Feind der Nazis sein musste, nachdem man es nicht mehr mit ein paar hunderttausend, sondern in den eroberten Gebieten mit Millionen Juden zu tun hatte, nachdem man diese Millionen nicht durchfüttern konnte und die Ghettos, in die man sie hätte sper­ren müssen, gefährliche Pulverfässer gewesen wären – war die „Endlösung“ nur folgerichtig. Was als Kombination von irrationalem Wahn und zynischer Propaganda begonnen hatte, war – in der Logik eines durch und durch verbrecherischen Kriegs – zur ungeheuerlichen militärischen Notwen­digkeit geworden.

In Appadurais Buch gibt es durchaus Andeutungen und Hinweise auf handfeste materielle Interes­sen. Auch die Rolle der Propaganda erwähnt er gelegentlich. Doch er klärt nicht, in welchem Ver­hältnis irrationale Ängste und reale Interessen zu einander stehen. Bei wem entstehen diese Ängste, wer verbreitet sie, wer lässt sich von ihnen anstecken, wer übernimmt die damit verbundenen Ver­dächtigungen und Beschuldigungen gutgläubig und wer macht sie sich zynisch zunutze, wer weiß es besser und unternimmt nichts dagegen und wer könnte es besser wissen, will es aber nicht? Menschliches Handeln ist immer von irrationalen Motiven und rationalen Überlegungen bestimmt. Aber irrationale Motive können nur dann gesellschaftliche wirksam werden, wenn sie den danach Handelnden – zumindest zeitweilig – einen realen Nutzen verschaffen.

Literaturverzeichnis

Appadurai, Arjun/Engels, Bettina (Übers.). 2009. Die Geographie des Zorns, Frankfurt am Main.

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Appadurai, Arjun. 2005 (orig. 1996). Modernity at large, Minneapolis.

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Brumlik, Micha. 2009. Kurze Geschichte der Juden, Berlin.

Djurić, Rajko/Becken, Jörg/Bengsch, A. Bertolt. 1996. Ohne Heim – ohne Grab. Die Geschichte der Roma und Sinti, Berlin.

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Mönninghoff, Wolfgang. 2001. Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft; Erbe der Deutschen, Hamburg.

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Schleich, Heidi/Pescosta, Anton S. 2003. Das Jenische in Tirol. Sprache und Geschichte der Karr­ner, La­ninger, Dörcher, Landeck.

1Weiter unten heißt es freilich: „Empirisch gesehen ist es natürlich unsinnig, von einem Ende des Natio­nalstaats zu sprechen.“ (Appadurai 2009: 44)

2Unter all diese in Anführungszeichen gesetzte Begriffe wurden zu unterschiedlichen Zeiten von unter­schiedlichen Instanzen unterschiedliche Personen nach unterschiedlichen Definitionen subsumiert.

3Im Original dieser misslungenen Übersetzung ist nicht von relativ kleinen Gruppen, sondern von „rela­tively small numbers“ die Rede (Appadurai 2006: 50).

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