Meine Biographie wird gebraucht für ein Jubiläumsbändchen.
Ist es schon so weit? Zeit für den Rückblick? Anscheinend ist es so weit.
Was gibt es zu sagen im Rückblick? Herzlich wenig eigentlich, oder auch unendlich viel. Aber was ist berichtenswert?
Je älter ich werde, um so klarer spüre ich, wie sehr die Geschichte und die Persönlichkeiten meiner Eltern meinen Charakter, mein Denken und meine Ideale geprägt haben. Mein Vater musste mit 16 Jahren Österreich verlassen. Seine Eltern hatten ihn mit einem Kindertransport nach England geschickt, um ihn vor den Nazis zu retten. Vier Jahre später mussten sie in einem Wald in der Ukraine einen Graben schaufeln helfen, sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, hinknien und erschießen lassen. Wie und wo es genau war, habe ich erst spät im Leben erfahren. Die letzten Briefe meiner Großeltern an meinen Vater besitze ich. Ich habe sie bis heute nicht gelesen. Mein Vater ist aus der Emigration zurückgekehrt. Er fühlte sich verpflichtet dafür zu wirken, dass es Krieg und Faschismus nie mehr geben sollten. Das Mittel dazu konnte nur der Kampf für den Sozialismus sein, die Kampfgenossen nur die Kommunisten. An diesem Weg hielt er fest bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings.
Meine Mutter stammte aus einer traditionsreichen Wiener Arbeiterfamilie. Ihre Geschichte ist nachzulesen in dem Buch Küss die Hand, gute Nacht, die liebe Mutter soll gut schlafen. Ihr Großvater hatte die erste gewerkschaftliche Organisation der Metalldrücker in Österreich gegründet. Als sie drei war, starb ihr Vater an den Folgen einer Weltkriegsverletzung, als sie zehn war, die Mutter an den Folgen einer illegalen Abtreibung. Zwei Jahre verbrachte meine Mutter in einem von einer Nazisse geleiteten evangelischen Waisenhaus, erlebte den Einmarsch, wurde vors Hotel Imperial geführt um dort: „Wir wollen unsern Führer sehn!“ zu rufen. Zwei unverheiratete Tanten haben sie aus dem Waisenhaus geholt, Straßenbahnschaffnerinnen, Kommunistinnen seit 1934 und bis ans Ende ihrer Tage.
So bin ich aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass die Welt so, wie sie ist, nicht gut ist, und so, wie sie ist, nicht bleiben darf.
Beim Oktoberstreik 1950 war ich schon mit auf den Barrikaden, erzählte mir meine Mutter. Am 14. Jänner 1951 wurde ich geboren. Mit 8 Jahren begann ich aktiv für den Sozialismus zu kämpfen, als Mitglied der Jungen Garde, der Pionierorganisation der KPÖ. „Junge-Garde-Pioniere, immer froh und hilfsbereit, Junge-Garde-Pioniere, Kämpfer einer neuen Zeit“, sangen wir. Dass ich mit 9 Jahren an einem Ferienlager dieser Organisation teilnahm, wurde bei der Staatspolizei aktenkundig. Jede Woche war Heimabend, es gab Kreisspiele und Kampflieder und Weihnachtsbasteleien und Geschichten vom Genossen Lenin. Am 1. Mai marschierten wir mit Blauhemd und rot-weiß-rotem Halstuch angetan hinter der Eisenbahnerblaskapelle. Mit 14 trat ich dem Forum der Mittelschüler bei. Jede Woche gab es einen Vortrag mit Diskussion, die Vortragenden wurden von der Schulungsabteilung der KPÖ gestellt. Dazu gemeinsame Kinobesuche, erste Zigaretten, Schilager, erste Pettingversuche. Die Mitglieder waren fast ausschließlich Kinder von KPÖ-Mitgliedern, der Stil abgehoben und intellektualistisch. Als ich mit meiner Freundin den Vorsitz übernahm – sie war die Präsidentin, ich der Vize – wollten wir nicht nur Vorträge anhören, sondern „aktiv Schulpolitik“ betreiben. Es war die erste große – noch keusche – Liebe, und sie lehrte mich, wie tief eine Beziehung sein kann, die auf gemeinsamen Zielen beruht. Wir beteiligten uns am großen Schulstreik gegen das Schulunterrichtsgesetz von Piffl-Perčević und streuten auf den Schulgängen Flugblätter, die zur Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien in Wien aufriefen. Wegen der Flugblätter, die zum Schulstreik aufriefen, zeigte mich mein Direktor bei der Pressepolizei an. Ich wurde eine Stunde lang verhört von zwei Polizisten, die mit einem Siebzehnjährigen „guter Bulle, böser Bulle“ spielten. Ich blieb standhaft und weigerte mich zu gestehen. Mein letztes Schuljahr verbrachte ich an der Stubenbastei, wo der gute Direktor Nowotny alle aufnahm, die wegen rebellischen Verhaltens woanders geflogen waren. Wir beteiligten uns an den Ostermärschen gegen Atomwaffen. Die vermittelten uns ein ganz anderes Feeling als die Maiaufmärsche. Gitarren und Tamburine und „We shall overcome“ statt „Wir sind die Arbeiter von Wien“ und Blasmusik. Es war die Zeit der Musik von Bob Dylan und Joan Baez, Pete Seeger und Donovan. Als ich sechzehn war, trampte ich in den Ferien nach Hamburg und Amsterdam, mit siebzehn nach Schottland und England. Beim Cambridge Folk Festival hörte ich Pentangle und Odetta. In einem Klub in London sang jemand Suzanne von Leonard Cohen. Ich schrieb einen kurzen Text über einen „Gammler“, den ich am Strand von Oostende getroffen hatte. Er wurde in der Literaturbeilage der Volksstimme veröffentlicht. Nach der Matura trampte ich Richtung Spanien, kam aber nur bis Nizza, verdiente meine Reise als Straßenmusiker mit der Gitarre. Ich verliebte mich in die schöne Vietnamesin Françoise, die in einen in der Ferne weilenden Ernest oder Emile verliebt war. Der Franzose Noël verliebte sich in mich, und so zogen wir zu dritt durch Nizza, alle drei unglücklich verliebt und doch glücklich verbunden. Als ich zurückkam, mit einem Schilling in der Tasche, musste ich zum Bundesheer einrücken. Doch der gute Professor Strotzka hatte mir ein Attest geschrieben, dass ich leider homosexuell sei, und so durfte ich nach drei Tagen wieder nach Hause. In der Aufregung ließ ich meine Gitarre unter dem Eisenbett in Kaisersteinbruch liegen.
Nun sollte ich studieren. Ich hatte Germanistik und Geschichte inskribiert, wollte Deutsch und Geschichte am Gymnasium unterrichten und es besser machen als meine verhassten Lehrer. Doch die Universität war eine Enttäuschung. Nicht das Reich des Geistes herrschte dort, sondern dieselbe Langeweile wie am Gymnasium. Da spielte ich lieber Theater bei Conny Hannes Meyers Komödianten am Börseplatz. Wir setzten Texte von Erich Fried, von Brecht und von Heine in Szene. Ein paar Monate besuchte ich auch eine Schauspielschule. Ich lernte ein Mädchen kennen, sie wurde schwanger, wir heirateten. Die Beziehung hielt nicht, auf ein Jahr des Glücks folgte ein Jahr der Verzweiflung, schließlich die Trennung. Ich war ein Sonntagspapa.
Conny Hannes Meyer bekam die Kainz-Medaille und in Folge das Theater im Künstlerhaus und regelmäßige Subventionen. Aus dem Theaterrebellen wurde ein Intendant und aus dem Kollektiv eine Belegschaft. Der Intendant hätte am liebsten das Stammensemble zum Kollektivvertragslohn engagiert, um genug Reserven für den Einkauf von Stars zu haben. Wir brauchten einen Betriebsrat und dessen Mitglied und zeitweiliger Vorsitzender war ich. Wir setzten ein gleichmacherisches Gehaltsschema durch, bei dem die höchste Schauspielergage 11.000 Schilling und die niedrigste 10.000 Schilling betrug. Unsere Putzfrauen bekamen 6.000 Schilling im Monat. Nur der Direktor Conny bekam 20.000, dagegen war nichts zu machen. Da ich auch Dramaturg war, hatte ich die Programmhefte zu gestalten. Zu Horvaths Bergbahn setzte ich – um die Aktualität des Stücks zu unterstreichen – einen Artikel über die miserablen Arbeitsbedingungen beim Kamerahersteller Eumig ins Programmheft. Den hatte ich einer „Betriebszeitung“ entnommen, die der Kommunistische Bund vor diesem Betrieb verteilte. Die Firma verklagte mich und ich wurde wegen Ehrenbeleidigung verurteilt.
Als Betriebsrat musste ich immer wieder auf Konfrontationskurs zum Direktor gehen. Nun wiederholte sich mehrmals die Farce, dass ich im Februar, wenn am Theater die Verträge auslaufen, von Conny einen Kündigungsbrief bekam, worauf ihm postwendend der Betriebsrat mitteilte, dass ich als Mitglied des Betriebsrats unkündbar und die Kündigung folglich nichtig sei. Eine künstlerische Zusammenarbeit war natürlich nur mehr mit anderen Regisseuren möglich. Meine schönste Rolle war der Dorftrottel in Büchners Woyzeck in der Regie von Helmut Wiesner, mit Dieter Hofinger als Woyzeck.
Im Sommer 1976 wurde die Arena besetzt. Unglaubliches geschah in diesem alten Schlachthof, der einer kleinen Stadt glich: Ein Frauenhaus entstand neben einem Rockerclub, Wienerliednachmittage mit Kaffee und Gugelhupf wechselten mit Rockkonzerten ab, ganz Wien und vor allem Simmering war am Wochenende da und genoss Gratiskultur. Alles war so aufregend, dass ich irgend eine Formalität zu erledigen vergaß und nicht mehr für den Betriebsrat kandidieren konnte. Wieder wurde ich gekündigt. Das Ensemble bot mir an, für mich in Streik zu treten. Ich bedankte mich, aber lehnte ab, denn ich konnte künstlerisch dort sowieso nichts mehr machen.
Nun war ich freier Musiker und Liedermacher. Mit zwei Kollegen vom Theater gründete ich die Gruppe Dreschflegel. Wir spielten das, was man später neue Volksmusik nannte. In der Hauptsache wurde mein Leben von der Arbeit im Kommunistischen Bund bestimmt. Dem gehörte ich nicht direkt an, sondern bloß einer seiner „Massenorganisationen“, dem Verband kommunistischer Intellektueller. Ich schrieb Kampflieder und Agitpropszenen. Ein paar Auftritte hatte ich im Fernsehen in der Jugendsendung Ohne Maulkorb, doch ich vermasselte mir das, weil ich den Fakt ignorierte, dass man auch super Gitarre spielen können muss, wenn man als Liedermacher Erfolg haben will. Ich hatte mich nur auf die Texte konzentriert.
Der Kommunistische Bund bestimmte das Leben seiner Mitglieder wie eine religiöse Sekte. Wir wollten eine revolutionäre proletarische Partei aufbauen, doch die meisten von uns waren Studenten. Einige hatten ihr Studium abgebrochen um „in die Betriebe zu gehen“. Wir waren fasziniert von der Legende der „Großen proletarischen Kulturrevolution“ im fernen China, der angeblichen Erneuerung und Verjüngung des verstaubten, bürokratischen Polizeistaat-Kommunismus, den wir in den Nachbarländern aus etwas geringerer Entfernung und darum realistischer sehen konnten. Wir scherten uns einen Dreck darum nachzuprüfen, was in China wirklich geschehen war. Wir sammelten Geld für die Unabhängigkeitsbewegung von Zimbabwe und spendierten Mugabe zwei Landrover. Dass der ein trauriger Diktator werden würde, war nicht vorauszusehen. Wir sammelten aber auch Geld für die Roten Khmer des Pol Pot und taten alles, was über ihr blutiges Regime bekannt wurde, als Gräuelpropaganda ab. Bei einer Anti-Apartheid-Demonstration – US-Vizepräsident Mondale und Südafrikas Ministerpräsident Vorster trafen sich in Wien – wurde ich festgenommen. Ich wurde vor Gericht gestellt, weil ich zwei Polizisten „eingekreist und durch Schläge und Tritte verletzt“ hätte. Die zwei Polizisten hatten ihre Aussage schlecht auswendig gelernt und ich wurde freigesprochen. Zu den vernünftigsten Dingen, die wir taten, gehörte die Rettung des alten Wacker-Platzes in Meidling vor der Verbauung und die Unterstützung der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung. Auch ich unterstütze diese Bewegung mit Liedern, sang auf Demos und Kundgebungen.
Nach Maos Tod und der Machtübernahme durch die Wirtschaftspragmatiker um Deng Xiaoping waren die Legenden nicht mehr aufrecht zu erhalten. Unsere Gruppe zerfiel. Es gab lächerliche Spaltungskämpfe, man sperrte sich gegenseitig aus dem Parteilokal aus, versuchte die Macht über die Druckerei zu übernehmen, es gab Agenten und Agentinnen, die die feindliche Fraktion ausspionierten, es gab Verrat und Verzweiflung. Im Grunde kämpften wir um unsere Illusionen, um eine Hoffnung, in die manche fünf, manche zehn Jahre ihres Lebens investiert hatten – und gegen die drohende Einsamkeit. Wer würden wir sein ohne „die Organisation“?
Ein Hoffnungsschimmer für einige von uns war die Bewegung der Solidarność in Polen. Hier waren nun wirklich die Arbeiter aufgestanden, hatten sich mit Philosophen und Künstlern – nun ja, auch mit der Kirche – verbündet. Vielleicht würde hier doch etwas Neues entstehen, eine wahre demokratische Volksherrschaft. Ein Jahr lang oder zwei gab uns das Komitee Solidarität mit Solidarność einen Lebensinhalt. Mit der in der Heimat als Musicalstar bekannten Teresa Haremza sang ich im Konzerthaus Verbotene Lieder aus Polen. Einmal hielt ich auf dem Stephansplatz in Wien eine Rede vor 7000 Menschen. Wir fuhren mit dem Auto nach Polen, erlebten die Euphorie der Menschen, nahmen großformatige Fotos von besetzten Fabriken und brennenden Parteilokalen mit, um sie hier auszustellen. An der Grenze zu Österreich nahmen uns die tschechischen Zöllner die Fotos ab. Wir verlangten eine Quittung, sie gaben uns keine, wir weigerten uns ohne Quittung die Grenzstation zu verlassen, erzählten allen Durchreisenden von der Ungerechtigkeit, die uns widerfuhr. Schließlich wurden wir von Soldaten abgeführt und in ein Kammerl gesperrt, bewacht von einem Soldaten mit geladenem Gewehr. In der Früh gaben wir auf und fuhren ohne Fotos und ohne Quittung heim.
Vor einigen Jahren hat mir im Vienna International Center ein kleiner, dicker Mann mit rotem Gesicht und Schnurrbart die Hand geschüttelt und eine Erinnerungsmedaille überreicht und vorher eine Rede gehalten, in der viel von Gott und Tradition die Rede war.
Eine Beziehung, die drei Jahre gedauert hatte, mündete in eine Hochzeit und endete in der Hochzeitsnacht. Die Braut war zu dem Schluss gekommen, dass sie doch den Trauzeugen bevorzugte. Die Organisation weg, die Frau weg, der beste Freund weg – es folgten drei einsame Jahre.
Ich arbeitete halbtags bei der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung in der Presseabteilung. Ich schrieb den wöchentlichen Pressedienst: über Sommerrodelbahnen und Skilifte, Hallenbäder und Weitwanderwege. Mittwoch zu Mittag war Redaktionsschluss. Ich fetzte das Zeug manchmal erst Mittwoch Vormittag hin, den Rest der Zeit trank ich Kaffee, las Zeitungen, bohrte in der Nase und schrieb gelegentlich ein Gedicht oder feilte an einer Kurzgeschichte herum. Nachmittags hatte ich frei. Ich erfüllte mir einen Kindheitswunsch: Ich lernte zaubern. Ich trat auch einem Magierklub bei.
Mit meiner Tochter machte ich eine wunderbare Ferienwanderung durch Kärnten. Sie war neun Jahre alt und ich konnte mir ihr reden – und mit ihr schweigen. Etwas von unseren alljährlichen Ferienabenteuern ist zu spüren in Der Sommer des Zauberers.
Meine zweite Ex-Frau rief mich an und wir trafen uns im Club M in der Schleifmühlgasse. Von dort war es nicht weit ins KuKu und plötzlich fand ich mich in einer Szene von Folkmusikern und Liedermachern wieder. Ich gründete wieder eine Band, die Regenpfeifer. Sängerin und Bandgründer waren bald ein Paar. und blieben es mit Unterbrechungen 14 Jahre lang. Wir verbrachten die Ferien miteinander und ich schrieb ein Kinderbuch. Und weil ich schon dabei war, gleich ein zweites. Als wir zurückkamen, rief ich eine alte Bekannte von mir an – die Mutter einer Exfreundin – und fragte sie um Rat. Sie hieß Christine Nöstlinger. Sie erlaubte mir, ihr die Manuskripte zu schicken und reichte das eine, das ihr gefiel, an zwei Verleger weiter. In diesem Jahr besetzten wir die Hainburger Au und brieten Würstel und sangen in den eisigen Dezembernächten und spielten wieder einmal Fangen mit der Polizei.
Eines Tages läutete bei mir das Telefon. Herr Jochen Gelberg war am Apparat. Er fragte, ob er mich am nächsten Tag besuchen könnte, er wolle gern mein Buch herausbringen. Zuvor hatte sich zwar schon ein kleinerer österreichischer Verlag bereit erklärt, mein Buch zu veröffentlichen, aber da ich noch keinen Vertrag unterschrieben hatte, ging ich mit leichten Gewissensbissen zur Konkurrenz über.
Nun war ich Schriftsteller, aber ich war es doch noch nicht. Ich musste eineinhalb Jahre warten, bis das Buch herauskam. Und bis dahin konnte ich nichts Neues schreiben. Meine Freundin holte mich in Minirock und einem räudigen Hasenfelljäckchen, das sie auf dem Flohmarkt gefunden hatte, vom Büro ab und überredete mich, die Presseabteilung aufzugeben, das sei doch nichts für mich. Wir hatten ein paar Auftritte mit der Band, aber nicht genug um davon zu leben, und mussten bei „Ritterfesten“ auf dem Leopoldsberg Betriebsausflügler unterhalten. Eine uns befreundete Band waren die „Spielleute“, sie war die „Zigeunerin“ und ich der Hofnarr. Ich machte Kartentricks und Witze und trank viel Rotwein, um das Ganze auszuhalten. Dann führte ich das ganze Ensemble in meinem Kleinbus zurück nach Wien.
Was niemand wissen kann erschien und wurde freundlich aufgenommen und halbwegs verkauft. Es war kein großer Hit, aber Jochen Gelberg nahm mir das nicht übel und brachte noch mehr Bücher von mir heraus. Eine Zeitlang glaubte er wohl, ich könnte ein Star wie Christine Nöstlinger oder Erwin Moser werden, aber da habe ich ihn enttäuscht. Gelegentlich machte er mir Vorschläge, doch über dieses oder jenes Thema zu schreiben. Für eine Anregung bin ich ihm besonders dankbar: den Vorschlag, die Lebensgeschichte Jean-Henri Fabres zu schreiben: Ich aber erforsche das Leben. Einige Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt, einige wurden mit Preisen ausgezeichnet. Von diesen sind auch welche im Gabriel Verlag erschienen, den Ingrid Weixelbaumer leitete. Ich wurde zu Lesungen eingeladen, verbrachte viel Zeit in Eisenbahnzügen und Hotelzimmern, in Schulbibliotheken, Musikzimmern und Turnsälen. Als Autor lebt man vom Tingeln, nicht von den Buchhonoraren, wenn man überhaupt davon leben kann. Die paar Ausnahmen sind bekannt. Einmal leisteten wir uns eine große Reise, nach Tonga im Südpazifik. Ich mietete ein uraltes Bauernhaus in der Steiermark und wir richteten es gemeinsam her. Zehn Jahre später hat der Besitzer es für sich beansprucht und das denkmalschutzwürdige Haus umgebaut. So dringend brauchte ich es auch nicht mehr, denn auch die Partnerin, mit der ich es geteilt hatte, war mir abhanden gekommen.
Das Internet als Publikationsmöglichkeit faszinierte mich von Anfang an. Hier gibt es zwar kein Geld zu verdienen, doch ein Publikum zu finden. Ich publizierte lyrikmaschine, als das WWW noch in den Kinderschuhen steckte. Seit einem Jahrzehnt gibt es www.martinauer.net.
Manchmal fragen mich von ihren Deutschlehrern schlecht beratene Jugendliche, was ich denn mit meinen Büchern sagen will. Meine Antwort darauf ist dann: „Wenn ich euch das sagen soll, muss ich euch alle meine Bücher vorlesen.“ Freilich gibt es doch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner. Ich will da aber lieber den Verleger sprechen lassen: „Er ist, vermute ich mal, ein Moralist“, sagte Jochen Gelberg in einer Festrede und: „Dabei ist unter seinen Abenteuern im Kopf auch dieses eine, allergrößte Abenteuer: Wie verändern wir die Welt, damit sie bewohnbar bleibt?“ Und damit hat er’s wohl getroffen. Die Frage ist immer dieselbe geblieben, auch wenn die Antworten, dich ich zu geben versuche, sich geändert haben. O ja, ich versuche, Antworten zu geben. Zu viele begnügen sich mit Denkanstößen. Gelegentlich muss auch einmal jemand denken. Und ja, es ist ein Abenteuer. Kein Kampf mit Drachen, Seeräubern und bösen Magiern kann so aufregend sein wie das Abenteuer, die wirkliche Welt zu verstehen und – vielleicht – zu ihrer Verbesserung beizutragen. Vielleicht mein wichtigstes Projekt: Eine Sammlung von Geschichten über Frieden und Krieg, zu finden auf www.peaceculture.net in mehr als 20 Sprachen.
Dass jedes Ende auch ein Anfang ist, diese tröstliche Wahrheit glaubt man ja immer erst, wenn man schon getröstet ist. Eine neue Beziehung folgte, eine, die auch gemeinsame Bücher hervorbrachte. Doch auch die war nicht von Dauer.
Eine Reise nach Kenia begann als Lesetournee und mündete in ein Internetprojekt mit Jugendlichen aus den Slums und in den Roman Stadt der Fremden.
Meine Tochter heiratete. In einer Kirche. Ihr zweiter Vater und ich führten sie gemeinsam zum Altar. Bald war ich Großvater.
Für ein halbes Jahr, nicht einmal, machte ich eine Reise zwei Häuserblocks weiter und in eine Welt, die ebenso fremd war wie die, die ich in Afrika kennengelernt hatte. Das Buch Hurentaxi gibt darüber Auskunft.
So habe ich mich schon als einsamer alter Wolf gesehen, der die Welt durchstreift und Berichte aus der Welt der Benachteiligten an die Satten und Privilegierten schickt. Doch es ist anders gekommen. Das größte Abenteuer hat gerade erst begonnen, jetzt, wo schon die Zeit angebrochen ist, da man Rückblicke von mir verlangt. Das Abenteuer heißt Familie. Familie mit allem, was dazugehört: Frühstück machen und Windeln wechseln und Wochenendausflug und Hustensaft und Vorlesen und Vorhänge aussuchen und Haare waschen und Sonntag Vormittag zu dritt unter der Decke kuscheln und Legosteine im Bett finden. Es ist ein Abenteuer. Leicht wird es nicht immer sein und der Ausgang ist ungewiss. Den nächsten Rückblick erst in zwanzig Jahren, bitte! Dann werden wir weiter sehen.
Ein außergewöhnlicher Rückblick (weil so viel so offen für die ganze Welt lesbar ist) und mit dessen Ende ich mich besonders gut identifizieren kann.
Auf die nächsten 20!
Andreas