Was die Demokratie gefährdet

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Wer nur eine Gruppe vor Diskriminierung und Verfolgung schützen will, verteidigt nicht wirklich die Demokratie

Reden wir einmal anstatt von Rassismus von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Damit erübrigen sich hoffentlich Diskussionen darüber, ob man „Rassismus und Antisemitismus“ nebeneinanderstellen soll oder ob das eine eine spezifische Form das anderen ist. Und hoffentlich auch Diskussionen darüber, ob man feindliche Einstellungen gegenüber einer religiösen Gruppe als Rassismus bezeichnen kann. Der Oberbegriff umfasst beispielsweise auch Sexismus, die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen und Behinderten.

Passive, aktive und politische Gruppenfeindlichkeit

Ich sehe im Wesentlichen drei Abstufungen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit:

  1. Passive Gruppenfeindlichkeit wie Vorurteile, Stereotype, Glaube an Verschwörungstheorien und dergleichen.
  2. Aktive Gruppenfeindlichkeit wie Beschimpfungen, Gewalttätigkeit, feindselige und diskriminierende Handlungen, wie Hakenkreuze auf Synagogen oder Moscheen zu schmieren, Friedhöfe zu schänden, Angehörigen einer bestimmten Gruppen offen oder unter einem Vorwand einen Arbeitsplatz, die Vermietung einer Wohnung oder den Eintritt in ein Lokal zu verweigern etc.
  3. Politische Gruppenfeindlichkeit: Befürworten oder öffentliches Eintreten für Entrechtung, Vertreibung oder Ermordung von bestimmten Gruppen.

Auch die erste Stufe stellt eine Gefährdung der Demokratie dar, weil sie jedenfalls anfällig macht für die zweite und dritte Stufe. Handlungen der zweiten Stufe hängen wohl meistens auch mit einer Übereinstimmung zur dritten Stufe zusammen. Die dritte Stufe ist unmittelbar demokratiegefährdend: Sie zielt auf die Zerstörung demokratischer Strukturen und die Einschränkung der Menschenrechte ab.

Sehen wir uns nun zwei Studien an: den Antisemitismusbericht 2022 im Auftrag des Parlaments und den Sozialen Survey der Universität Salzburg 2018 zu Einstellungen zu Muslimen in Österreich. In allen Tabellen stellt die Prozentzahl die Summe der beiden Bewertungen „sehr zutreffend“ und „eher zutreffend“ dar. Zu den Hervorhebungen komme ich später.

Antisemitismusbericht 2022 im Auftrag des Parlaments

AussageZustimmungsrate
Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt.36 %
In wachsendem Ausmaß zeigen sich heute wieder Macht und Einfluss der Juden in der internationalen Presse und Politik.30 %
Juden haben in Österreich zu viel Einfluss.19 %
Hinter aktuellen Preissteigerungen stehen oft jüdische Eliten in internationalen Konzernen.18 %
Von einem Juden kann man nicht erwarten, dass er anständig ist.10 %
Wenn ich jemanden kennenlerne, weiß ich in wenigen Minuten, ob dieser Mensch Jude ist.12 %
Juden sind für mich im Grunde israelische Staatsbürger und keine Österreicher.21 %
Juden haben wenig Interesse, sich in das jeweilige Land zu integrieren, in dem sie leben. Das ist der Hauptgrund für ihre ständigen Probleme22 %
Es ist nicht nur Zufall, dass die Juden in ihrer Geschichte so oft verfolgt wurden; zumindest zum Teil sind sie selbst schuld daran.19 %
Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer gewesen sind.36 %
In den Berichten über Konzentrationslager und Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg wird vieles übertrieben dargestellt.11 %
Ich bin dagegen, dass man immer wieder die Tatsache aufwärmt, dass im Zweiten Weltkrieg Juden umgekommen sind.34 %
Wenn es den Staat Israel nicht mehr gibt, dann herrscht Frieden im Nahen Osten.14 %
Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.23 %
Die Israelis behandeln die Palästinenser im Grunde auch nicht anders als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden.30 %

Spannend ist noch der folgende Anhang an den Antisemitismusbericht. Dreimal so viele Menschen würden sich von muslimischen Nachbarn gestört fühlen wie von jüdischen, aber am meisten von Roma·nja und Sinti·zze.

Wenn Sie folgende Nachbarn hätten, würde Sie das stören?
Roma·nja und Sinti·zze37 %
Muslimische Menschen34 %
Schwarze Menschen17 %
Jüdische Menschen11 %
Homosexuelle11 %
Österreicher*innen5 %

Einstellungen zu Muslimen in Österreich –Ergebnisse des Sozialen Survey 2018

AussageZustimmungsrate
Muslime müssen sich in Österreich an unsere Kultur anpassen87 %
Der Staat soll islamische Gemeinschaften beobachten79 %
Muslime stellen keine kulturelle Bereicherung dar72 %
Das Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung der Frau71 %
Der Islam passt nicht in die westliche Welt70 %
Muslime sollten in der Schule kein Kopftuch tragen dürfen:66 %
Ich habe Angst, dass Terroristen unter den Muslimen in Österreich sind:59 %
Glaubensausübung bei Muslimen soll eingeschränkt werden:51 %
Ich fühle mich durch Muslime manchmal wie Fremde in Österreich50 %
Wir sollten keine Moscheen in Österreich tolerieren48 %
Muslime sollten nicht gleiche Rechte haben wie alle in Österreich45 %

Offensichtlich sind die Fragestellungen der beiden Studien unterschiedlich. Üblicherweise wird aber bei einer Erhebung im Vorfeld untersucht, welche Fragestellungen überhaupt relevant sind. Dazu wird wissenschaftliche Literatur herangezogen oder es werden Vorstudien gemacht. Jedenfalls wird im Antisemitismusbericht etwa die Frage nach der Gleichberechtigung von Jüdinnen und Juden oder nach der Akzeptanz von Synagogen gar nicht gestellt, vermutlich weil davon keine relevanten Ergebnisse erwartet wurden.

Forderungen nach politischer Entrechtung

Im Antisemitismusbericht habe ich nur eine Aussage gefunden, die direkt auf innenpolitische Entrechtung von Jüd:innen hinausläuft: „Juden sind für mich im Grunde israelische Staatsbürger und keine Österreicher.“ Beunruhigende 21 Prozent stimmen dieser Aussage zu, die impliziert, dass Jüd:innen als Ausländer:innen behandelt werden sollen. Vielleicht wäre dieser Prozentsatz doch eine Veranlassung, auch direkt die Frage nach der Gleichberechtigung zu stellen. Die Aussage „Wenn es den Staat Israel nicht mehr gibt, dann herrscht Frieden im Nahen Osten“, die von 14 Prozent geteilt wird, ist außenpolitisch, aber nicht präzise formuliert. Wenn sie darauf hinauswill, die Juden in Israel zu vertreiben oder umzubringen, ist sie klar menschenfeindlich. Etwas anderes ist es, wenn damit eine Einstaatenlösung gemeint ist, ein demokratischer Staat für alle seine Bürger:innen – so illusorisch das auch erscheinen mag. Das wäre dann nicht mehr das jetzige Israel, das sich ja als jüdischer Staat definiert.

Im Sozialen Survey zu Muslimenfeindlichkeit finde ich dagegen fünf Aussagen, die ich zur politischen Gruppenfeindlichkeit zähle: Am beunruhigendsten ist, dass 45 Prozent offen aussprechen: „Muslime sollten nicht gleiche Rechte haben wie alle in Österreich“. 48 Prozent wollen keine Moscheen tolerieren, 51 Prozent wollen Glaubensausübung von Muslim:innen eingeschränkt sehen, und 79 Prozent wollen, dass der Staat islamische Gemeinschaften beobachtet. Hinter der Forderung nach Kopftuchverbot in der Schule, die von 66 Prozent geteilt wird, könnten ja eventuell auch pädagogische Motive stehen, wenn sie generell auf die Forderung nach Trennung von Religion und Schule abzielt. Soweit sie sich aber ausschließlich auf Musliminnen bezieht, stellt sie die Forderung nach Entrechtung dar.

Alle Formen der Gruppenfeindlichkeit bekämpfen 

Alle Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gefährden die Demokratie, weil Vorurteile und Stereotype eben leicht in Handlungen umschlagen können, vor allem, wenn sie von politischen Abenteurern bewusst geschürt und ausgenutzt werden. Doch wer nur eine spezifische Form bekämpfen will, nur eine Form als bedrohlich für die Demokratie sieht, verteidigt nicht wirklich die Demokratie. Es gibt in Österreich eine Antisemitismus-Meldestelle, eine Dokustelle für antimuslimischen Rassismus, eine Beratungsstelle für Roma und Sinti, die einen Bericht Antiziganismus in Österreich herausgibt. Soweit ich weiß, gibt nur der Verein Zara Berichte über alle Formen von Rassismus heraus und berät und unterstützt alle von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Betroffenen, die sich an ihn wenden.

Wir sollten uns doch klar sein: Man kann Muslimenfeindlichkeit bekämpfen und gleichzeitig antisemitisch eingestellt sein. Man kann Antisemitismus bekämpfen und gleichzeitig muslimenfeindlich sein. Man kann Romafeindlichkeit oder Homosexuellenfeindlichkeit oder Sexismus bekämpfen und gleichzeitig andere Gruppen verachten oder sie entrechten wollen. Man kann eine spezifische Form von Rassismus bekämpfen und gleichzeitig selber Rassist sein. Wer wirklich die Demokratie verteidigen will und nicht nur spezifische Gruppeninteressen, muss sich gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit stellen, insbesondere gegen die politischen Formen.

Titelbild: March Against Racism 2017, Foto: Garry Knight, Public Domain

Krieg: Sind wir geborene Killer?

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Die Ansicht, dass Kriege ihre Wurzeln in der angeborenen Aggressivität der Menschen – oder jedenfalls der Männer – haben, ist weit verbreitet. Wir sagen, der Krieg „bricht aus“, so wie wir sagen „ein Vulkan bricht aus“ oder „eine Krankheit bricht aus“. Ist der Krieg also eine Naturgewalt?

Sigmund Freud hat die menschliche Aggression auf einen angeborenen Todestrieb zurückgeführt. Er hat das unter anderem in seinem berühmten Brief an Albert Einstein: „Warum Krieg?“ dargelegt. Er schrieb: „Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte;“ Und er schlussfolgerte, „dass es keine Aussicht hat, die aggressiven Neigungen der Menschen abschaffen zu wollen.“ Dennoch hoffte er, dass „der Einfluß dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird.“

Der österreichische Nobelpreisträger Konrad Lorenz hat in: „Das sogenannte Böse“1 eine ähnliche These aufgestellt, nur hat er sie mit der Evolutionstheorie begründet: Nach seinem „psychohydraulische Energiemodell“ staut sich der Aggressionstrieb, wenn er nicht befriedigt wird, immer mehr auf, bis es zum gewalttätigen Ausbruch kommt. Nach diesem Ausbruch ist der Trieb vorläufig befriedigt, beginnt sich aber wieder von neuem aufzustauen, bis es zu einem neuen Ausbruch kommt. Gleichzeitig sei dem Menschen auch der Trieb angeborenen, sein Territorium zu verteidigen. Als Mittel, um Kriege zu vermeiden, hat Lorenz sportliche Massenveranstaltungen empfohlen. Dadurch könnte Aggression gesellschaftlich sinnvoll abgebaut werden.

Jane Goodall, die 15 Jahre lang die Schimpansen in ihrer natürlichen Umgebung am Gombe-Fluss in Tansania studierte, erlebte in den 1970er Jahren, wie „ihre“ Gruppe sich nach dem Tod ihres Anführers sich spaltete. Innerhalb von vier Jahren töteten Männer der „Nordgruppe“ alle Männer der „Südgruppe“. Die schockierte Jane Goodall bezeichnete das als Krieg.(2) Dadurch erhielt die Ansicht vom angeborenen Killerinstinkt und von der angeborenen Territorialität neue Nahrung.

Der Anthropologe Napoleon Chagnon veröffentlichte 1963 den Bestseller: „Yanomamö, the fierce people“(3) über seine Feldarbeit unter diesem Volk im Amazonas-Regenwald. „Fierce“ lässt sich mit „gewalttätig“, „kriegerisch“ oder „wild“ übersetzen. Seine Hauptthese war, dass Männer, die viele Feinde töteten, mehr Frauen und damit mehr Nachkommen hatten als die anderen, also einen evolutionären Vorteil.

Unvollständige Erklärungsansätze

Alle Theorien über die angeborene Neigung der Menschen zum Krieg haben einen Mangel. Sie können nicht erklären, warum zu einem spezifischen Zeitpunkt eine spezifische Gruppe von Menschen auf eine andere Gruppe losgeht, und warum sie zu anderen Zeiten das nicht tut. Zum Beispiel haben heute die meisten Menschen, die in Österreich aufgewachsen sind, noch nie einen Krieg erlebt.

Genau mit dieser Frage hat sich der Anthropologe Richard Brian Ferguson von der Rutgers University sein ganzes wissenschaftliches Leben befasst. Schon als College Student während des Vietnamkrieges begann sein Interesse an der Frage nach den Wurzeln des Kriegs.

Unter anderem analysierte er den so einflussreichen Bericht Chagnons und wies auf Grund von Chagnons eigenen Statistiken nach, dass Männer, die Feinde getötet hatten, im Durchschnitt zehn Jahre älter waren und einfach schon mehr Zeit gehabt hatten, Nachkommen zu zeugen. Historisch konnte er zeigen, dass die Kriege der Yanomamö mit dem unterschiedlichen Zugang verschiedener Gruppen zu westlichen Gütern, vor allem Macheten als Produktionsmittel und Gewehren als Waffen zusammenhingen. Das führte einerseits dazu, dass sich der Handel damit entwickelte, führte aber auch zu Überfällen auf Gruppen, die diese begehrten Güter besaßen. Bei der historischen Aufarbeitung konkreter Kämpfe stellte Ferguson fest, dass Kriege unabhängig davon, mit welche Werten oder Glaubensvorstellungen sie begründet wurden, dann geführt wurden, wenn sich die Entscheidungsträger davon einen persönlichen Vorteil versprachen.(4)

Die letzten 20 Jahre trug er Material über alle berichteten Fälle von tödlicher Aggression unter Schimpansen zusammen. Unter anderem analysierte er auch die Feldnotizen von Jane Goodall. Daraus wurde das Buch: „Chimpanzees, War, and History: Are Men Born to Kill?“, das im heurigen Jahr erschienen ist.(5) Darin zeigt er, dass die Fälle von tödlichen Kämpfen zwischen verschiedenen Gruppe mit dem Eindringen von Menschen in den Lebensraum der Schimpansen zusammenhängen, während Tötungen innerhalb von Gruppen auf Statuskonflikte zurückgehen. 

Krieg ist das Produkt menschengemachter Systeme, nicht der menschlichen Natur

Im Schlusskapitel verweist er auf seinen schon 2008 erschienen Beitrag „Ten Points on War“.(6) Diese fasst seine zwanzigjährige Forschung zu Kriegen von Stammesgesellschaften, Kriegen früher Staaten und dem Irakkrieg zusammen. Hier die wichtigsten Thesen:

Unsere Spezies ist nicht biologisch dazu bestimmt, Krieg zu führen

Menschen haben allerdings die Fähigkeit, kriegerisches Verhalten zu lernen, und sogar, sich daran zu erfreuen.

Krieg ist kein unentrinnbarer Bestandteil unserer sozialen Existenz

Es stimmt nicht, dass Menschen immer schon Krieg geführt haben. Archäologische Befunde aus vielen Jahrtausenden zeigen, zu welchem Zeitpunkt in einem Gebiet Krieg auf der Bildfläche erscheint: befestigte Dörfer oder Städte, speziell für den Krieg geeignete Waffen, eine Häufung von Skelettresten, die auf einen gewaltsamen Tod deuten, Spuren von Brandlegungen. In vielen Regionen der Welt gibt es Daten, die Jahrhunderte oder Jahrtausende ohne Krieg belegen. Die Spuren von Krieg tauchen zusammen mit sesshafter Lebensweise auf, mit zunehmender Bevölkerungsdichte (man kann einander nicht einfach aus dem Weg gehen), mit Handel von wertvollen Gütern, abgegrenzten sozialen Gruppen und mit schweren ökologischen Umwälzungen.Im Gebiet des heutigen Israel und Syriens wurden vor 15.000 Jahren, gegen Ende der Altsteinzeit, die „Natufier“ sesshaft. Doch die ersten Anzeichen von Krieg tauchen dort erst vor 5.000 Jahren, in der frühen Bronzezeit auf.

Die Entscheidung, einen Krieg anzufangen, wird dann getroffen, wenn sich die Entscheidungsträger:innen davon einen persönlichen Nutzen versprechen

Krieg ist eine Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln. Ob die Entscheidung zum Krieg fällt oder nicht, hängt ab vom Ausgang innenpolitischer Rivalitäten zwischen Gruppen, die vom Krieg profitieren – oder glauben, davon zu profitieren – und anderen, die sich vom Krieg eher Nachteile erwarten. Die Rhetorik, mit der die Notwendigkeit des Krieges begründet wird, beruft sich fast nie auf materielle Interessen, sondern auf höhere moralische Werte: Ideen darüber, was das Menschsein ausmacht, religiöse Pflichten, Beschwörung von Heldenmut und so weiter. Praktische Wünsche und Bedürfnisse werden so in moralische Rechte und Pflichten umgewandelt. Das ist notwendig, um Krieger:innen, Soldat:innen oder Angehörige von Milizen zum Töten zu motivieren. Und es ist nötig, um die Bevölkerung dazu zu bringen, den Krieg zu akzeptieren. Doch oft genügt die Anrufung höherer Werte nicht. Militärwissenschafter:innen haben gezeigt, dass es schwieriger ist, Soldaten zum Töten zu bewegen, als gewöhnlich angenommen wird.(7).  Dann müssen die Soldaten mit brutalem Drill zu Kampfmaschinen trainiert werden, oder es kommen Drogen zum Einsatz, die bewirken, dass Soldaten mit „Hurra“ ins Maschinengewehrfeuer laufen.

Krieg formt die Gesellschaft

Krieg passt die Gesellschaft an seine Bedürfnisse an. Krieg führt zur Entwicklung von stehenden Heeren, er formt Erziehungssysteme – von Sparta bis zur Hitlerjugend –, er formt die Populärkultur – Filme, in denen die „Guten“ die „Bösen“ vernichten, Computerspiele, die Titel haben wie: „Call to Arms“, „World of Tanks“ oder schlicht: „Total War“  –, Krieg verfestigt Grenzen, verändert die Landschaft durch Wehrbauten, fördert die Entwicklung neuer Technologien, er beeinflusst das Staatsbudget und das Steuersystem. Wenn eine Gesellschaft im Inneren an die Erfordernisse des Kriegs angepasst ist, wird das Kriegführen leichter. Ja es wird zur Notwendigkeit, wenn bestehende Institutionen ihre Rechtfertigung behalten sollen. Was ist eine Armee, ein Kriegsministerium, eine Panzerfabrik ohne Feind?

Im Konflikt werden Gegensätze und Gegner konstruiert

m Krieg muss es eine klare Trennlinie zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ geben, sonst würde man nicht wissen, wen man töten soll. Es ist selten, dass an einem Krieg nur zwei schon vorher existierende Gruppen beteiligt sind. Bündnisse werden geschlossen, Allianzen geschmiedet.  Das „Wir“ im Irakkrieg war nicht identisch mit dem „Wir“ im Afghanistankrieg. Allianzen zerfallen und neue bilden sich. Der Gegner von gestern kann der Verbündete von heute sein. Ferguson hat für das Zusammenspiel von Identitäten und Interessen den Begriff des „Identerest“ geprägt. Religiöse, ethnische, nationale Identitäten werden im Konflikt um Interessen gebildet: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns!“

Führer begünstigen Krieg weil Krieg Führer begünstigt

Krieg macht es Führern (und Führerinnen) leichter, „ihr“ Volk hinter sich zu versammeln und es dadurch besser kontrollieren zu können. Das gilt auch für Terroristen. Terrorgruppen sind meistens stark hierarchisch organisiert und Entscheidungen werden an der Spitze getroffen. Die Führer sprengen sich nicht selbst in die Luft und massakrieren nicht selbst. Sie gewinnen Macht und die Vorteile, die die Macht mit sich bringt.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg

Sind wir also geborene Killer? Nein. Von Natur aus sind wir zur Friedfertigket ebenso fähig wie zur rohen Gewalt. Die 300.000 Jahre, die Homo Sapiens ohne Kriege auf diesem Planeten gelebt hat, sind Zeuge dafür. Der archäologische Befund zeigt, dass Kriege zur ständigen Einrichtung geworden sind, seit die ersten Staaten entstanden sind. Die Menschheit hat sich, ohne es zu wollen, Systeme geschaffen, die auf Konkurrenz beruhen und zur Expansion drängen. Das Unternehmen, das nicht wächst, geht früher oder später unter. Die Großmacht, die ihre Märkte nicht ausdehnt, bleibt nicht lange Großmacht.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden hat seine eigene Dynamik. Frieden braucht andere Verhaltensmuster und andere gesellschaftliche und politische Institutionen. Frieden braucht Wertesysteme, die Gleichberechtigung fördern und Gewalt als Mittel zum Zweck ablehnen. Frieden braucht auf allen gesellschaftlichen Ebenen Systeme, die nicht auf Konkurrenz beruhen. Dann wird es auch möglich sein, dass wir Menschen unsere friedfertige Natur ausleben können, statt unserer kriegerischen.

Fußnoten

1 Lorenz, Konrad (1983): Das sogenannte Böse, München, Deutscher Taschenbuchverlag

2 Goodall, Jane (1986 ):The Chimpanzees of Gombe: Patterns of Behavior. Boston, Belknap Press of the Harvard University Press.

3 Chagnon, Napoleon (1968): Yanomamö : The Fierce People (Case Studies in cultural anthropology). New York, : Holt.

4 Ferguson, Brian R. (1995): Yanomami Warfare: A Political History. Santa Fe, New Mexico: School of American Research Press,.

5 Ferguson, Brian R. (2023): Chimpanzees, War and History. Are Men Born to Kill? Oxford: Oxford University Press.

6 Ferguson, Brian R. (2008): Ten Points on War. In: Social Analysis 52 (2). DOI: 10.3167/sa.2008.520203.

7 Fry, Douglas P, (2012): Life without War. In: Science 336, 6083: 879-884.

Klimakatastrophe, Konflikte und kritische Rohstoffe

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Teilweise Wiedergabe eine Vortrags von Martin Auer (Scientists for Future Österreich) bei den Linzer Friedensgesprächen am 27. Jänner 2023

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hörte und las man oft Sätze wie: „Erneuerbare Energien sichern Frieden“. Eine typische Argumentation ist diese: „Öl und Gas heizen nicht nur den Klimawandel an, sie befeuern auch militärische Konflikte in aller Welt. Wer Frieden schaffen will, muss deshalb die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen beseitigen – durch Investitionen in saubere Energiequellen wie Sonne und Wind.“1

Dabei wird leider übersehen, dass für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien und für dessen Speicherung große Mengen „kritischer Metalle“ gebraucht werden, wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Nickel und Seltenerdmetalle. Und diese sind sehr ungleich in der Erdkruste verteilt. Drei Viertel der Gewinnung von Lithium, Kobalt und Seltenen Erden finden in China, der Demokratischen Republik Kongo und im Lithiumdreieck Chile-Argentinien-Bolivien statt.2

In einem Papier von 2020 hat die Europäische Kommission festgehalten: „Der Zugang zu Rohstoffen ist eine strategische Sicherheitsfrage für Europa, um den „Green Deal“ zu verwirklichen. (…) Europas Übergang zu Klimaneutralität könnte an die Stelle der heutigen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen die Abhängigkeit von Rohstoffen setzen, von denen wir viele aus dem Ausland beziehen und um die die globale Konkurrenz immer erbitterter wird.“3

Im Juli 2021 hatte die EU mit der Ukraine ein strategisches Abkommen zur Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen und Erzeugung von Batterien geschlossen4. Die Ukraine verfügt über große Reserven von Lithium, Kobalt, Beryllium und Seltenerdmetallen, die vom Ukrainian Geological Survey mit 6.700 Millionen Euro bewertet werden5. Das Lithium-Vorkommen wird mit 500.000 Tonnen als eines der größten der Welt eingeschätzt.

Abbildung 1: Lithiumvorkommen in der Ukraine
Quelle: Ukrainian Geological survey
https://www.geo.gov.ua/wp-content/uploads/presentations/en/investment-opportunities-in-exploration-production-strategic-and-critical-minerals.pdf

Im Februar 2022 hat Russland dann die Ukraine überfallen. Das größte Vorkommen liegt in den seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebieten im Osten in der Oblast Donetsk. Laut der Politologin Olivia Lazard (Carnegie Europe) geht es Putin unter anderem darum, der EU den Zugang zu diesen Vorräten abzuschneiden. Russland verfügt selbst über große Reserven an kritischen Rohstoffen und strebt danach, mit deren Hilfe wieder ein mächtiger Player auf dem Weltmarkt zu werden. Die Wagner-Söldnertruppe ist übrigens auch in mineralreichen Ländern in Afrika aktiv, wie Mosambik, Zentrafrikanische Republik, Madagaskar und Mali.6

Ein anderer kritischer Rohstoff ist Nickel. Im Dezember 2022 hat die Welthandelsorganisation (WTO) einer Klage der EU gegen Indonesien stattgegeben. Indonesien hatte 2020 ein Gesetz erlassen, das die Ausfuhr von Nickel verbietet und verlangt, dass Nickelerz in Indonesien raffiniert werden muss. Dagegen hatte die EU geklagt. Das, wogegen Indonesien sich wehrt, ist das klassische koloniale Muster: Rohstoffe werden im globalen Süden gewonnen, aber die Wertschöpfung findet im globalen Norden statt. Unternehmensprofite, Steuern, Arbeitsplätze wandern also in den Norden. „Wir wollen ein entwickeltes Land werden, wir wollen Arbeitsplätze schaffen“, erklärte der indonesische Präsident. Die EU aber will koloniale Muster aufrechterhalten.7

Der zweitgrößte Lithiumproduzent ist derzeit Chile (nach Australien). In der Atacama Wüste, einer der trockensten der Erde, wird Lithiumkarbonat als Salzsole aus dem Boden hochgepumpt. Die Sole lässt man in großen Becken verdunsten. Laut Bergbau-Kommission der chilenischen Regierung wurde dem Grundwasser in der Atacama zwischen 2000 und 2015 viermal so viel Wasser entzogen, wie auf natürliche Weise in Form von Regen- oder Schmelzwasser in das Gebiet gelangte. Für die Landwirtschaft der Indigenen in den Oasen wird das Wasser immer knapper. Die Indigenen wurden auch zu den Lithiumprojekten nicht konsultiert. Das verstößt gegen die UN-Konvention für indigene Völker.8

Die größten Lithiumreserven liegen unter der Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien. Allerdings werden sie bisher kaum abgebaut. Die sozialistische Regierung von Evo Morales hat Lithium zum strategischen Rohstoff erklärt mit dem langfristigen Ziel, Bolivien zu einem weltweit führenden Hersteller von Batterien zu machen, also die Wertschöpfung im Land zu behalten. Es gab hier zunächst einen Konflikt mit lokalen Kräften der Provinz Potosí, wo die Vorkommen liegen. Diese wollten möglichst bald von Lizenzgebühren profitieren und waren auch mit der Wahl des strategischen Partners für die Erschließung nicht einverstanden. Das sollte die deutsche Firma ACI Systems sein, die auch Tesla mit Batterien beliefert, und die sich verpflichtete, auch eine Fabrik für Batterien für den südamerikanischen Markt zu bauen und bolivianische Mitarbeiter:innen auszubilden und zu qualifizieren. Das sollte einerseits einen Technologietransfer für Bolivien bringen, andererseits sollte durch das Joint Venture natürlich auch Deutschland Zugang zum begehrten Lithium bekommen.

Der Konflikt zwischen Potosí und der Zentralregierung wurde mit Demonstrationen, Hungerstreiks und blutigen Polizeieinsätzen ausgetragen. Morales stoppte schließlich den Vertrag mit ACI.9 Bei den kurz darauf folgenden Präsidentenwahlen, zu denen Morales zum vierten Mal antrat, behauptete die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die die Wahl überwachen sollte, Wahlbetrug festgestellt zu haben. Der Vorwurf wurde später widerlegt. Rechte Kräfte nahmen den angeblichen Wahlbetrug am 10. November 2019 als Vorwand für einen Putsch.10 Die OAS wird zu 60 Prozent von den USA finanziert. Morales beschuldigte also die USA, hinter dem Putsch zu stehen. Die Trump-Administration begrüßte den Putsch offiziell.

(Elon Musk tweetete einige Zeit später: „Wir putschen gegen wen wir wollen, schluckt das!“11)

Die Putschregierung annullierte den Vertrag mit ACI endgültig und machte so den Weg frei für den Ausverkauf bolivianischen Lithiums an transnationale Konzerne. Die investigative Plattform „Declassified“ berichtete von hektischen Aktivitäten der britischen Botschaft nach dem Putsch, um in Verhandlungen über Lithium einzutreten.12

Der Widerstand gegen den Putsch war aber stark genug, um Neuwahlen zu erzwingen.
Diese Wahlen fanden 2020 statt und wurden von Luis Arce, einem Parteigenosse von Morales gewonnen, diesmal mit unbestreitbarem Vorsprung, und die Verhandlungen mit ACI wurden wieder aufgenommen mit dem Ziel, bessere Bedingungen für Bolivien zu erreichen.13

Die EU strebt natürlich auch danach, den Bedarf an kritischen Mineralien im Inneren und im näheren Umkreis zu decken. Doch hier stößt der Lithiumabbau auf prinzipiellen Widerstand.

So ist Barroso, eine Landschaft im Norden Portugals, die von der FAO zum „Landwirtschaftlichen Kulturerbe“ erklärt worden ist, vom Lithium-Gewinnung im Tagebau bedroht.

In Serbien haben die Proteste gegen geplanten Lithiumabbau dazu geführt, dass die Regierung die Lizenz für den Großkonzern Rio Tinto aufgehoben hat.

Warum ist das Rennen um kritische Rohstoffe so erbittert?

Laut einer Prognose der Investment-Bank Goldman Sachs sollen im Jahr 2050 drei Milliarden PKWs auf dem Planeten unterwegs sein, also mehr als doppelt so viele wie heute, davon 19 % Elektrofahrzeuge und 9 % mit Wasserstoff oder mit Flüssiggas betrieben.

Abbildung 2: PKW im Jahr 2050 laut Goldman Sachs
Orange: Verbrenner, blau: Elektroautos, gelb: alternative Kraftstoffe (z.B. Wasserstoff)
Quelle: https://www.fuelfreedom.org/cars-in-2050/

Das Szenario der Internationalen Energieagentur sagt, es müssen 33 % E-Autos sein. Die Gesamtzahl von drei Milliarden Autos wird aber nicht in Frage gestellt.14 Niemand fragt sich: „Wie können wir mit dem auskommen, was wir haben?“, sondern man schätzt den Bedarf an diesen kritischen Rohstoffen auf Grund des vorhergesagten Wirtschaftswachstums, und da ist der Druck, sich diese Ressourcen zu beschaffen, natürlich umso größer.

Laut OECD soll die gesamte Weltwirtschaft sich bis 2050 verdoppeln, von heute 100 Billionen Dollar auf 200 Billionen, in Kaufkraft gemessen.15 Wir sollen also 2050 doppelt so viel von allem herstellen und verbrauchen wie heute. Das bedeutet aber, dass sich der Bedarf an Rohstoffen generell auch verdoppeln wird, leicht gemildert durch verbessertes Recycling.

Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Wissenschaftler:innen der Universität Valladolid kam zum Ergebnis: Wenn man den gegenwärtigen Trend zur E-Mobilität in die Zukunft fortschreibt, würde der akkumulierte Verbrauch an Lithium bis 2050 120 % der jetzt bekannten Reserven ausmachen. Bei einem Szenarium mit hohem Anteil an E-Autos beträgt diese Zahl 300 %, bei einem Szenario mit Schwergewicht auf leichten E-Fahrzegen wie E-Bikes knapp unter 100 %, und nur bei einem Degrowth-Szenario würden wir bis 2050 erst 50 % der Vorkommen abgebaut haben. Ähnlich sehen die Ergebnisse für Kobalt und Nickel aus.16

Abbildung 3: Quelle: Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910
https://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2022/EE/D2EE00802E

Eine Änderung der Energiebasis wird also am Wettlauf um Ressourcen nichts ändern. Er wird sich nur verlagern von Öl und Kohle auf andere Materialien. Und es geht bei diesem Wettlauf nicht nur darum, die Verfügung über die Rohstoffe zu bekommen, sondern auch um die Beherrschung des Marktes.

Ich möchte auf ein historisches Beispiel verweisen: Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schreibt über die Ziele des späteren deutschen Reichskanzler Gustav Stresemann als Reichstagsabgeordneter im 1. Weltkrieg: Die Ausweitung des deutschen Hoheitsgebiets durch die Eingliederung Belgiens, der französischen Küste bis Calais, Marokko und zusätzlichen Gebieten im Osten fand er ‚notwendig‘, weil sie Deutschland eine adäquate Plattform für den Wettbewerb mit Amerika verschaffen konnte. Keine Volkswirtschaft, die nicht über einen garantierten Markt von mindestens 150 Millionen Abnehmern verfügte, würde sich mit den Vorteilen der Massenproduktion in den USA messen können.17

Das ist die Logik, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg bestimmte, das ist die Logik, die die Ausweitung der EU bestimmt, das ist die Logik, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine bestimmt, das ist die Logik, die den Konflikt zwischen den USA und China bestimmt. Es ist nicht so, dass derjenige, der besser und günstiger produziert, den Markt beherrschen wird, sondern umgekehrt, wer den größeren Markt beherrscht, kann die wirtschaftlichen Vorteile der Massenproduktion besser ausnützen und sich gegen die Konkurrenz durchsetzen.

Es geht in den Kriegen der Neuzeit nicht nur darum, wer wem Ressourcen wegnehmen kann, wer wessen Arbeitskraft ausbeuten kann, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – darum, wer wem was verkaufen kann. Das ist die Logik einer Wirtschaftsweise, die auf Konkurrenz beruht und auf dem Einsatz von Kapital zur Erzeugung von noch mehr Kapital. Da geht es gar nicht um die Gier von bösen Kapitalisten, sondern um die Struktur der Wirtschaftsweise: Wenn Sie ein Unternehmen leiten, müssen Sie Gewinne machen, um in Innovationen investieren zu können, damit sie nicht hinter der Konkurrenz zurückbleiben. Die Villa und die Yacht sind angenehme Nebenerscheinungen, aber das Ziel ist die Vermehrung des Kapitals, um im Geschäft bleiben zu können. Innovationen führen dazu, dass Sie entweder mit derselben Arbeit mehr produzieren können, oder dasselbe mit weniger Arbeit. Aber da ihr Produkt durch die Innovation billiger wird, müssen Sie mehr davon verkaufen, um die nötigen Gewinne für neue Invwestitionen zu machen. Dabei werden Sie noch vom Staat und von den Gewerkschaften unterstützt, denn wenn Sie Ihren Absatz nicht ausweiten können, gehen Arbeitsplätze verloren. Sie dürfen sich nicht fragen: Braucht die Welt mein Produkt eigentlich, ist das gut für die Menschen? Sondern Sie fragen sich, wie kann ich die Leute dazu bringen, es zu kaufen? Durch Werbung, dadurch, dass ich es künstlich schnell veralten oder kaputtgehen lasse, dadurch, dass ich die Konsument:innen über die wahren Eigenschaften im Unklaren lasse, dass ich sie danach süchtig mache, wie im Fall der Tabakindustrie, oder dass ich überhaupt, wie im Fall von Panzern und dergleichen, es von den Steuerzahler:innen bezahlen lasse. Natürlich bringt die kapitalistische Wirtschaftsweise auch gute und nützliche Produkte hervor, aber es ist für die Verwertung des Kapitals unerheblich, ob das Produkt nützlich oder schädlich ist, solange es verkaufbar ist.

Diese Wirtschaftsweise muss zwangsläufig an die Grenzen des Planeten stoßen, und sie muss immer wieder an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Dieses Wirtschaftssystem erlaubt uns nicht zu sagen: So, wir haben jetzt eigentlich genügend von allem, mehr brauchen wir nicht. Eine „Degrowth“-Wirtschaftsweise, eine Wirtschaftsweise, die nicht zu unendlichem Wachstum tendiert, muss prinzipiell anders organisiert sein. Und das Prinzip muss sein: Der Kreis der Konsument:innen und Produzent:innen – und und mit Produzent:innen meine ich jene, die die Arbeit machen – muss demokratisch bestimmen, was, wie, in welcher Qualität, in welcher Menge produziert wird. Welche Bedürfnisse sind grundlegend und unverzichtbar, was ist fein, wenn man es hat, und was ist überflüssiger Luxus? Wie können wir die wahren Bedürfnisse mit möglichst geringem Einsatz von Energie, Material und öder Routinearbeit befriedigen?

Wie lässt sich das organisieren? Ein funktionierendes Beispiel scheint es bis jetzt auf der Welt nicht zu geben. Vielleicht ist ein Denkanstoß der Klimarat der Bürger:innen. Das waren in Österreich 100 zufällig und repräsentativ für die Gesellschaft ausgewählte Menschen, die – von Expert:innen beraten – Vorschläge ausgearbeitet haben, wie Österreich seine Klimaziele erreichen könnte. Leider hat dieser Rat keine Macht, seine Vorschläge durchzusetzen. Solche Bürger:innenräte, die sowohl über wirtschaftliche als auch über politische Entscheidungen beraten, könnte es auf allen Ebenen der Gesellschaft geben, auf Gemeinde- Landes-, Bundesebene und auch auf europäischer Ebene. Und über ihre Empfehlungen müsste dann auch demokratisch abgestimmt werden. Die Unternehmen müssten auf das Gemeinwohl verpflichtet werden anstatt auf den Shareholder-Value. Und wenn privatwirtschaftliche Unternehmen das nicht leisten können oder wollen, müssen ihre Aufgaben durch genossenschaftliche, kommunale oder staatliche Unternehmen übernommen werden. Nur eine solche Wirtschaftsweise wird nicht an die Grenzen des Planeten und nicht an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Nur eine solche Wirtschaftsweise kann daher die Voraussetzungen für dauerhaften Frieden schaffen.


1https://energiewinde.orsted.de/klimawandel-umwelt/energiewende-friedensprojekt

2https://www.nytimes.com/2022/03/02/climate/ukraine-lithium.html

3https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0474&from=EN

4https://single-market-economy.ec.europa.eu/news/eu-and-ukraine-kick-start-strategic-partnership-raw-materials-2021-07-13_en

5https://www.geo.gov.ua/wp-content/uploads/presentations/en/investment-opportunities-in-exploration-production-strategic-and-critical-minerals.pdf

6Lazard, Olivia (2022): Russia’s Lesser-Known Intentions in Ukraine. Online verfügbar unter https://carnegieeurope.eu/strategiceurope/87319

7https://www.aspistrategist.org.au/the-global-race-to-secure-critical-minerals-heats-up/

8https://www.dw.com/de/zunehmender-lithium-abbau-verst%C3%A4rkt-wassermangel-in-chiles-atacama-w%C3%BCste/a-52039450

9https://amerika21.de/2020/01/236832/bolivien-deutschland-lithium-aci-systems

10https://www.democracynow.org/2019/11/18/bolivia_cochabamba_massacre_anti_indigenous_violence

11https://pbs.twimg.com/media/EksIy3aW0AEIsK-?format=jpg&name=small

12https://declassifieduk.org/revealed-the-uk-supported-the-coup-in-bolivia-to-gain-access-to-its-white-gold/

13https://dailycollegian.com/2020/09/bolivias-new-government-and-the-lithium-coup/
https://www.trtworld.com/magazine/was-bolivia-s-coup-over-lithium-32033
https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/nov/13/morales-bolivia-military-coup

14https://www.fuelfreedom.org/cars-in-2050/

15https://data.oecd.org/gdp/real-gdp-long-term-forecast.htm

16Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910. DOI: 10.1039/D2EE00802E

17Tooze, Adam (2006): Ökonomie der Zerstörung, München

Rassismustheorien und Solidarität: Implikationen verschiedener Rassismustheorien für die antirassistische Praxis

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Abstract

Diese Arbeit vergleicht einige wichtige Theorien über Rassismus und fragt, welche Grundlagen für eine antirassistische Praxis sie bieten können. Als wesentliches Unterscheidungsmerk-mal wird gesehen, ob diese Theorien die Existenz einer Mehrheitsgesellschaft als gegeben ansehen, die in einem Interessengegensatz zu rassistisch unterdrückten Minderheiten steht, oder ob sie die Produktion der Mehrheitsgesellschaft und ihre Funktion für den Machterhalt von Eliten unter die Lupe nehmen. Je nachdem bieten solche Theorien unterschiedliche Grundlagen für Solidarität: Entweder auf der Basis der Moral und eines allgemeinen Humanismus oder auf der Basis von gemeinsamen Interessen zwischen rassistisch Unterdrückten und großen Teilen der „Mehrheitsgesellschaft“. Im Hinblick auf diese Theorien werden Publikationen verschiedener österreichischer Organisationen und Institutionen mit antirassistischer Agenda untersucht. Eine theoretische Fundierung ist hier meist nur rudimentär oder implizit vorhanden. Ein konsequenter emanzipatorischer Antirassismus, der das Eintreten gegen Rassismus und Sexismus mit dem Eintreten für ein alternatives Gesellschaftsmodell verbindet, ist höchstens ansatzweise auszumachen.

https://www.researchgate.net/publication/355647184_Martin_Auer_Rassismustheorien_und_Solidaritat_Implikationen_verschiedener_Rassismustheorien_fur_die_antirassistische_Praxis

Ein Ereignis im Hof

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Der Mistkübler hat den leeren Mistkübel gerade in den Mistkübelraum geschoben. Er kommt aus dem Mistkübelraum, ich bin unterwegs zum Mistkübelraum. „Mist?“ fragt der Mistkübler und streckt die Hand nach meinem Mistsackerl aus. „Ja“, sage ich. Der Mistkübler nimmt mir das Mistsackerl ab und trägt es hinaus zum Mistkübelwagen. „Oh, danke, das ist aber nett“, sage ich. Der Mistkübler nickt mir zu.
Das wars. Das ist die ganze Geschichte. Mehr kommt nicht.

Die Sozialdemokraten überzeugten mich, dass alles stimmte, was sie über die Kommunisten sagten. Und die Kommunisten überzeugten mich, dass alles stimmte, was sie über die Sozialdemokraten sagten.

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„The Social‑Democrats convinced me that almost everything they said about the Communists was correct – the evils of Stalinism and terror, the unprincipled swervings of the world party line, the langue de bois1. But at the same time the Communists convinced me that almost everything they said about the Social‑Democrats was correct – the chronic cave‑ins to Western nationalisms, the incredible weakness of their opposition to capitalist polarization, the lack of serious militancy concerning racial injustice.“

Immanuel Wallerstein
https://iwallerstein.com/intellectual-itinerary/


1 Betonsprache: eine rhetorische Figur, die ausschließlich propagandistischen Zwecken und der ideologischen Manipulation der Öffentlichkeit dient (Wikipedia)

Das Reimschema

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Mich erreichte die folgende Email:

Betreff: Der wortgewandte Elefant

Sehr geehrter Herr Auer,

ich schreibe Sie an, weil mein Kind das o. g. Gedicht in der Schule als Thema durchnimmt. Es geht jetzt darum, welches Reimschema vorkommt. Wir sind uns da nicht so einig und würden uns über eine schnelle Antwort sehr freuen!

Viele Grüße

Das Gedicht ist unter anderem auf lyrikline zu finden.

Darauf verfasste ich die folgende Antwort:

Die Frage nach dem Reimschema hat mich zunächst zum Lachen gebracht. Denn als ich das Gedicht schrieb, dachte ich nicht an ein Schema, sondern fand es einfach lustig, so viele Reime auf Elefanten unterzubringen wie möglich. Natürlich wollte ich auch eine Geschichte erzählen und nicht einfach ein Unsinnsgedicht schreiben (manchmal tue ich auch das ganz gerne). Doch die Idee zur Geschichte ist, glaube ich – und es ist ja schon ziemlich lange her – aus den Reimwörtern gekommen.

Aber die Reime haben doch, im Nachhinein gesehen, auch eine Funktion für die Geschichte. Zuerst wird von den kriegslüsternen Elefanten erzählt. Alle Zeilen reimen sich auf Elefanten (a). Doch dann kommt eine Unterbrechung. Ein einziger Elefant will nicht mitmachen. Und das wird auch durch die neuen Reime ausgedrückt: einer, kleiner, Heiner (b). Der Dialog zwischen Heiner und den anderen wird hauptsächlich mit Reimen auf ein (c) geführt, und diese Reime führen zu dem wichtigen Wort Nein. Dann kommt die Begründung für das Nein mit d und e. Und jetzt wird davon erzählt, wie die Elefanten ihre Haltung ändern, und das wird wieder mit denselben Reimen wie am Anfang erzählt, also a. Aber dann kommt noch einmal ein Schwenk: Die ganze Geschichte wird in Frage gestellt: Geht das wirklich so einfach? Kann einer allein nur mit überzeugenden Argumenten einen Krieg abwenden? Wahrscheinlich nicht. Aber man muss es doch versuchen. Und dieser neue Gedanke wird wieder mit neuen Reimen dargestellt, Sachen, Lachen, machen (f).

Es geht mir oft so: Hinterher kann ich ganz gut erklären, wie ein bestimmter Text funktioniert, warum er so und nicht anders geschrieben wurde. Aber während des Schreibens denke ich über diese „technische“ Seite des Textes nicht nach. Ich horche innerlich auf den Klang der Wörter, Sätze und Zeilen und ändere und feile so lange, bis es mir einfach gefällt, bis ich das Gefühl habe, dass es so richtig ist.

Und wenn dann ein Text in einem Schulbuch steht und ich nach Dingen wie dem Reimschema gefragt werde, dann bin ich zunächst einmal etwas erstaunt. Genügt es denn nicht, einen interessanten Text zu lesen? Muss man ihn auch zerpflücken? Versteht man ihn dann wirklich besser? Ich weiß es nicht.

Herzlichst

Martin Auer

Als die Elefantena
sich einmal verranntena
und in Zorn entbranntena
gegen ihre Verwandten;a
als sie Onkel und Tantena
vor Wut nicht mehr kannten,a
sie Verräter nanntena
und Intriganten;a
als die Elefantena
Kriegserklärungen sandten,a
Kommandanten ernanntena
und Adjutanten,a
die den Angriff planten;a
als sie ihre Verwandtena
aus dem Lande verbannten,a
ihre Fahne verbrannten,a
ihre Häuser umrannten –a


da sagte einerb
(und zwar ein kleinerb
mit Namen Heiner):b
„He, ich find das nicht feinc
sondern ziemlich gemeinc
und fies obendrein!“c
Die andern sagten: / „Was soll das sein?c
Du bist viel zu kleinc
um so rumzuschrei’n,c
lass die Kinderei’nc
und misch dich nicht ein!“c
Doch der Kleine sprach: „Nein!c


Weil ich genauso sterben kann,d
geht mich der Krieg genauso an.d
Ich brauch nicht die Häuser von meinen Kusinene
ich will viel lieber spielen mit ihnen.“e


Und er redete, bis die Elefantena
sich wieder entspannten,a
ihren Fehler erkanntena
und ihren Verwandtena
mit charmantena
und galantena
Entschuldigungen Geschenke sandtena
die überreicht wurden von Musikantena
und Komödianten;a
so dass Onkel und Tantena
und alle Elefanten-a
Verwandtena
sich mit tolerantena
und kulantena
Worten zum Frieden bekannten,a
ihre Waffen verbranntena
und sich ab nun nur mehr amüsantena
und elegantena
Tätigkeiten zuwandten.a
Und natürlich kamen alle als Gratulantena
zu dem kleinsten der Elefanten,a
den sie ihren furchtlosen Retter nannten.a


Sagt ihr, solche Sachen sind nur zum Lachen,f
es hört doch eh keiner auf die Schwachen?f
Vielleicht. / Aber einer muss doch den Anfang machen?f

Intersektionalität: „Check your privilege“ oder Solidarität?

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Den Begriff „Intersektionalität“ prägte die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw (1989) in einer Analyse, die von Praktiken der Rechtssprechung amerikanischer Gerichte ausging. Ihr ging es darum aufzuzeigen, dass die Betrachtung von Unterdrückung entlang von einzelnen Achsen, also der Achse der rassistischen Unterdrückung oder der Achse der sexistischen Unterdrückung, sowohl in der feministischen Theorie als auch in der antirassistischen Politik dazu führt, dass Gruppen, die von mehrfacher Unterdrückung betroffen sind, ausgeklammert (erased) werden. In der feministischen Theorie würden die Anliegen weißer Frauen vorherrschen, und zwar genau durch eine universalistische Haltung, die besagt, dass alle Frauen in gleicher Weise unterdrückt würden. Ebenso würde der antirassistische Kampf durch die Anliegen und Sichtweisen schwarzer Männer dominiert. Doch spiegelt diese Eindimensionalität in Feminismus und Antirassismus eine gesamtgesellschaftliche Realität wieder, die Crenshaw am Beispiel von Gerichtsprozessen abhandelt. In dem Prozess DeGraffenreid v General Motors beschuldigten fünf Frauen General Motors, dass das Dienstalter-System der Firma Schwarze Frauen diskriminiere. Vor 1964 hätte GM überhaupt keine Schwarzen Frauen eingestellt, und die danach eingestellten Frauen hätten während einer Rezession 1970 wegen des Senioritätsprinzips ihre Stellen als erste wieder verloren. Das Gericht wies die Klage ab mit der Begründung, dass man GM nicht vorwerfen könne, Schwarze zu diskriminieren, da GM ja Schwarze Männer eingestellt hätte. Und dass man GM nicht vorwerfen könne, Frauen zu diskriminieren, da GM ja Weiße Frauen eingestellt hätte. Hier zeigt sich also, dass bei der Betrachtung von Diskriminierung entlang jeweils nur einer Achse Schwarze Frauen aus der Betrachtung herausfallen.

Es erscheint wichtig festzuhalten, dass Crenshaw mit Intersektionalität die Diskriminierungs-Erfahrung Schwarzer Frauen analysiert:

Because the intersectional experience is greater than the sum of racism and sexism, any analysis that does not take intersectionality into account cannot sufficiently address the particular manner in which Black women are subordinated (Crenshaw 1989: 140).

Es geht also um die besondere Art, in der Schwarze Frauen untergeordnet werden. Die intersektionale Erfahrung ist mehr als nur die Summe der Diskriminierungs-Erfahrungen durch Rassismus einerseits und Sexismus andererseits.

Weiters ist festzustellen, dass Crenshaw die von ihr kritisierte Eindimensionalität als gesamtgesellschaftliches Phänomen behandelt, das sowohl den dominanten Diskurs (Justiz) als auch den Diskurs des Widerstands (Feminismus, Antirasissmus) betrifft, sie zwischen diesen Diskursebenen aber anscheinend nicht unterscheidet.

Hervorzuheben ist, dass es Crenshaw nicht um bevorzugte Behandlung der Probleme Schwarzer Frauen geht. Es geht ihr durchaus um Fragen der Solidarität. Sie stellt fest, dass die eindimensionale Sicht auf Diskriminierung es Schwarzen Frauen erschwert oder unmöglich macht, als Repräsentantinnen von Frauen aufzutreten, die auch für Weiße Frauen sprechen können, bzw. als Repräsentantinnen von Schwarzen Menschen aufzutreten, die auch für Schwarze Männer sprechen können. Die eindimensionale Diskriminierungsdoktrin stellt sie vor ein Dilemma:

It forces them to choose between specifically articulating the intersectional aspects of their subordination, thereby risking their ability to represent Black men, or ignoring intersectionality in order to state a claim that would not lead to the exclusion of Black men (Crenshaw 1989: 148).

Dies hat schwerwiegende Folgen für den politischen Kampf:

When one considers the political consequences of this dilemma, there is little wonder that many people within the Black community view the specific articulation of Black women’s interests as dangerously divisive (ebenda).

Um ihren Begriff von Intersektionalität zu illustrieren, benutzt Crenshaw das Bild der Straßenkreuzung (intersection), auf die aus allen Richtungen Fahrzeuge zukommen: Jede Richtung repräsentiert eine bestimmte Achse der Diskriminierung (Rassismus, Sexismus). Die Schwarze Frau steht sozusagen mitten auf dieser Kreuzung.

Weiter unten zeichnet Crenshaw ein weiteres Bild. Diese düstere Metapher ist es wert, im Wortlaut wiedergegeben zu werden:

Imagine a basement which contains all people who are disadvantaged on the basis of race, sex, class, sexual preference, age and/or physical ability. These people are stacked – feet standing on shoulders – with those on the bottom being disadvantaged by the full array of factors, up to the very top, where the heads of all those disadvantaged by a singular factor brush up against the ceiling. Their ceiling is actually the floor above which only those who are not disadvantaged in any way reside. In efforts to correct some aspects of domination, those above the ceiling admit from the basement only those who can say that „but for“ the ceiling, they too would be in the upper room. A hatch is developed through which those placed immediately below can crawl. Yet this hatch is generally available only to those who – due to the singularity of their burden and their otherwise privileged position relative to those below – are in the position to crawl through. Those who are multiply-burdened are generally left below unless they can somehow pull themselves into the groups that are permitted to squeeze through the hatch (Crenshaw 1989: 151-152).

Dieses Bild wirft mehrere Fragen auf:

Wer sind die, die in keiner Weise benachteiligt sind? Weder durch Rasse, noch durch Klasse, noch durch sexuelle Orientierung noch durch Alter oder Behinderung? Weiße, heterosexuelle, körperlich und geistig unversehrte männliche Angehörige der besitzenden Klasse? Was ist ihre Rolle in der Gesellschaft? Und ist im Oberstock tatsächlich Platz für alle? Selbst wenn – was theoretisch vorstellbar ist – jede Diskriminierung nach Rasse, Gender, sexueller Orientierung, Alter und körperlicher Verfasstheit beseitigt wäre, wenn es also ein rein meritokratisches System gäbe – könnten in diesem rein meritokratischen System auch alle zur besitzenden Klasse aufsteigen? Oder geht es nur darum, dass alle die gleiche Chance bekommen sollen, durch die Luke nach oben zu kriechen?

Weiters zeichnet Crenshaw in dieser Metapher eine Hierarchie der Unterdrückung. Die Menschen in der untersten Reihe werden von denen, die auf ihren Schultern stehen, daran gehindert, durch die Luke nach oben zu kriechen. Folgt daraus nicht logisch, dass im Keller ein Kampf um den Platz unter der Luke ausbrechen muss? Aber sollen sich die im Keller auf diesen Kampf einlassen? Sollen sie die schmale Luke akzeptieren? Sollen sie die Unterteilung des Hauses in Oben und Unten akzeptieren? Die Luke vergrößern? Die Zwischendecke wegreißen?

Die Metapher lässt unterschiedliche Deutungen zu.

Eine weitere Frage ist: Geht es beim Konzept der Intersektionalität um besonderen Schutz für besonders von Diskriminierung Betroffene? Oder hilft das Konzept, generell den Kampf gegen Rassismus und Sexismus (und alle ähnlichen „Ismen“) zu führen?

Im Anschluss an die Metapher vom Keller und der Luke schreibt Crenshaw:

As this analogy translates for Black women, the problem is that they can receive protection only to the extent that their experiences are recognizably similar to those whose experiences tend to be reflected in antidiscrimination doctrine (Crenshaw 1989: 152).

Hier geht es also um die Frage des Schutzes. Ein weiteres Zitat weist auf eine breitere Bedeutung hin: Crenshaw zitiert Anna Julia Cooper, eine Schwarze Feministen des 19. Jahrhunderts:

Referring to one of Martin Delaney’s public claims that where he was allowed to enter, the race entered with him, Cooper countered: „Only the Black Woman can say, when and where I enter then and there the whole Negro race enters with me“ (Crenshaw 1989: 160).

Hier geht es also ums Eintreten in gesellschaftliche Bereiche, die vorher verschlossen waren. Und im Schlussatz bekräftigt Crenshaw:

By so doing, we may develop language which is critical of the dominant view and which provides some basis for unifying activity. The goal of this activity should be to facilitate the inclusion of marginalized groups for whom it can be said: „When they enter, we all enter“ (Crenshaw 1989: 167).

Der Begriff der Intersektionalität dient also der Analyse der Diskriminierungs-Erfahrung von Gruppen, die von mehr als einer Form von Diskriminierung betroffen sind. Diese Analyse solle helfen, den Schutz der betroffenen Gruppen vor Diskriminierung einzufordern und das Bewusstsein zu schaffen, dass die Teilhabe einer Gruppe an allen gesellschaftlichen Bereichen erst dann gewährleistet ist, wenn auch die Teilhabe der am meisten marginalisierten Teile dieser Gruppe gewährleistet ist. Gefordert wird, dass die Anliegen der am meisten Marginalisierten ins Zentrum der theoretischen Analyse und der politischen Auseinandersetzung gestellt werden.

Die Frage ist nun, wie weit der Ansatz der Intersektionalität hilft, dem Problem von Rassismus und Sexismus auf den Grund zu gehen. Der Soziologe Immanuel Wallerstein geht nicht von der Erfahrung der Diskriminierten aus, sondern von der Funktion der Diskriminierung, wenn er schreibt:

This kind of system […] does three things extremely well. lt allows one to expand or contract the numbers available in any particular space-time zone for the lowest paid, least rewarding economic roles, according to current needs. It gives rise to and constantly re-creates social communities that actually socialize children into playing the appropriate roles (although, of course, they also socialize them into forms of resistance). And it provides a non-meritocratic basis to justify inequality. […] It allows a far lower reward to a major segment of the work force than could ever be justified on the basis of merit (Wallerstein 1998: 34).

Die Funktion des Sexismus wiederum sei es, die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen sicherzustellen, die es überhaupt erst ermöglicht, diese niedrigen Löhne zu zahlen:

In such a system, this labour input in non-wage work ‚compensates‘ the lowness of the wage-income and therefore in fact represents an indirect subsidy to the employers of the wage labourers in these house- holds (Wallerstein 1998: 34).

Und die Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist, ein Nachfolgesystem zum Kapitalismus zu (er)finden:

It is a question of whether and how we shall invent new systems that will utilize neither the ideology of universalism nor the ideology of racism-sexism. That is our task, and it is not an easy one (Wallerstein 1998: 36).

Wenn also die Funktion von Rassismus und Sexismus ist, das kapitalistische System aufrecht zu erhalten, dann zeigt sich, dass alle, denen dieses System Schaden zufügt, sei es in Form unsicherer Arbeitsverhältnisse, sei es in Form der Umweltschäden, die dieses System verursacht, der Gefährdung der Zivilisation durch den Klimawandel, sei es durch Kriege, die dieses System hervorbringt und die immer noch das Potential haben, die Menschheit zu vernichten – das sie alle, also auch die Mehrheit der Männer, auch die Mehrheit der Weißen, Opfer von Sexismus und Rassismus sind.

Wenn Analyse der Erfahrung der Diskriminierung nicht mit der Analyse der Funktion der Diskriminierung verbunden wird, dann besteht die Gefahr, dass die Bestrebungen zur Beseitigung von Diskriminierung nicht zur Solidarität der unterschiedlichen und sich überschneidenden Gruppen führen, sondern zum Wettstreit darum, wer zuerst durch die Luke in der Kellerdecke kriechen darf und zu „Oppression Olympics“, also dem gegenseitigen Messen, wer unterdrückter ist und der daraus resultierenden Konkurrenz um die Deutungshoheit im jeweiligen antidiskriminatorischen Diskurs. Zwei Jahrzehnte nach Crenshaws Artikel schreibt die Theoretikerin der Intersektionalität Ange-Marie Hancock einen „Guide to Ending the Oppression Olympics“ (Hancock 2011). Die Wörter „capitalism“ oder „capitalist“ kommen darin nicht vor, wie man mit einer Suche in Google Books leicht feststellen kann, und auch „colonialism“ erscheint nur in einem Literaturverweis. Das Streben nach Schutz vor Diskriminierung bleibt im System verhaftet.

Eine weitere Gefahr besteht im gegenseitigen Aufrechnen von Privilegien – was ja nur die andere Seite von Oppression Olympics ist. Intersektionalität stellt die relative Privilegiertheit von Untergruppen heraus, fragt aber auch nicht nach der Funktion dieser scheinbaren oder wirklichen Privilegien.

Arjun Appadurai schreibt über die antimuslimischen Ausschreitungen in Gujarat 2002, die hinduistischen Nationalisten hätten den Muslimen vorgeworfen, sie seien der muslimischen Welt gegenüber loyaler als gegenüber Indien. Sie hätten die Muslime der sexuellen Unmoral und der Unterdrückung ihrer Frauen beschuldigt. Sie hätten jede Erfüllung irgendeiner Forderung der muslimischen Gemeinschaft als „Beschwichtigungspolitik“, als einen Schritt hin zur Kapitulation vor Pakistan hingestellt (Appadurai 2009: 93). Setzen wir für Hindus Arier ein, für Muslime Juden und für Pakistan England – woran erinnert uns diese Beschreibung?

Appadurai selbst stellt die Angst vor der Verunreinigung (das ist das vorherrschende Thema in diesem Buch) nicht als politisches Werkzeug, sondern als die eigentliche psychologische Triebfeder für Attacken auf Minderheiten dar, auch wenn er festhält,

daß die Idee einer hinduistischen Mehrheit in Wirklichkeit die numerische Minderheit der oberen Kasten verschleiert. Diese landbesitzenden Kasten haben […] einen Aufstieg der unteren Kasten nämlich weit mehr zu fürchten als die dortigen Muslime (Appadurai 2009: 91).

Helene Basu schreibt in ihrer Untersuchung über die riots:

Erfolg und Reichtum muslimischer Wirtschaftsunternehmer erregen Neid, der von Ideologen der hindu-nationalistischen Bewegungen als „gerechte Empörung“ über die „Ausbeutung von Hindus durch Muslime“ geschürt wird. Dies wird z. B. auf Flugblättern deutlich […]. In einem solchen Pamphlet wird zum Boykott von muslimischen Wirtschaftsunternehmen aufgerufen; kleine und große muslimische Betriebe […] und ihre angeblichen Einkünfte werden aufgelistet, muslimische Geschäftsleute als skrupellose Ausbeuter gebrandmarkt, die sich von vertrauensseligen Hindus unrechtmäßig „hinduistisches Geld“ aneignen, um zum Dank ihre Frauen zu vergewaltigen und schließlich einen Glaubenskrieg zu führen (Basu 2004: 238).

Ziehen wir noch ein anderes Beispiel heran, den Genozid in Ruanda 1994. In ihrem Bericht für Human Rights Watch fasst Alison Des Forges zusammen:

This genocide resulted from the deliberate choice of a modern elite to foster hatred and fear to keep itself in power. This small, privileged group first set the majority against the minority to counter a growing political opposition within Rwanda. Then, faced with RPF success on the battlefield and at the negotiating table, these few powerholders transformed the strategy of ethnic division into genocide. They believed that the extermination campaign would restore the solidarity of the Hutu under their leadership and help them win the war, or at least improve their chances of negotiating a favorable peace. They seized control of the state and used its machinery and its authority to carry out the slaughter (Des Forges 1999: 1-2).

Diese Beispiele sollen illustrieren, wie die Spaltung einer Gesellschaft in privilegierte Mehrheit und diskriminierte Minderheit entlang Rassen-, Gender-, oder religiösen Linien funktioniert, um die Interessen einer Elite-Minderheit als die Interessen der Mehrheit darzustellen. Sie sollen zeigen, wie auch die relativ Privilegierten zu Opfern dieser Spaltung werden.

Die Aufforderung: „Check your privilege“ kann innerhalb des widerständigen Diskurses nützlich sein, um die Aufmerksamkeit der relativ privilegierten Gruppe auf die Anliegen der intersektional diskriminierten Gruppe(n) zu lenken und sie daran zu erinnern, dass sie nicht die alleinige Deutungshoheit besitzt. Doch wenn das Aufrechnen von Privilegien dazu führt, dass Personen oder ganze Gruppen aus dem antidiskriminatorischen Diskurs und der damit verbundenen politischen Praxis ausgeschlossen werden, hat das Prinzip des Teilens und Herrschens wieder einmal gesiegt.

Dieser Beitrag will die Verdienste der intersektionalen Analyse in keiner Weise schmälern. Sehr wohl soll aber auf die Grenzen einer Analyse hingewiesen werden, die sich auf die Erfahrung der Diskriminierung und den Schutz vor Diskriminierung beschränkt. Eine Solidarisierung aller diskriminierten Gruppen wird nur möglich, wenn auch die Funktion der Diskriminierung für die Erhaltung des kapitalistischen und kolonialistischen Systems in die Analyse mit einbezogen wird.

Literatur

Appadurai, Arjun/Engels, Bettina (Übers.). 2009. Die Geographie des Zorns, Frankfurt am Main.

Basu, Helene. 2004. Riots, in: Historische Anthropologie 12, 2: 228–242.

Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989 (1), S. 139–167.

Des Forges, Alison Liebhafsky (1999): „Leave none to tell the story“. Genocide in Rwanda. New York, Paris: Human Rights Watch; International Federation of Human Rights.

Hancock, Ange-Marie (2011): Solidarity Politics for Millennials: A Guide to Ending the Oppression Olympics. New York: Palgrave Macmillan.

Wallerstein, Immanuel Maurice (1998): The Ideological Tensions of Capitalism: Universalism versus Racism and Sexism. In: Étienne Balibar und Immanuel Maurice Wallerstein: Race, nation, class : ambiguous identities. London [u.a.]: Verso.