Den Begriff „Intersektionalität“ prägte die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw (1989) in einer Analyse, die von Praktiken der Rechtssprechung amerikanischer Gerichte ausging. Ihr ging es darum aufzuzeigen, dass die Betrachtung von Unterdrückung entlang von einzelnen Achsen, also der Achse der rassistischen Unterdrückung oder der Achse der sexistischen Unterdrückung, sowohl in der feministischen Theorie als auch in der antirassistischen Politik dazu führt, dass Gruppen, die von mehrfacher Unterdrückung betroffen sind, ausgeklammert (erased) werden. In der feministischen Theorie würden die Anliegen weißer Frauen vorherrschen, und zwar genau durch eine universalistische Haltung, die besagt, dass alle Frauen in gleicher Weise unterdrückt würden. Ebenso würde der antirassistische Kampf durch die Anliegen und Sichtweisen schwarzer Männer dominiert. Doch spiegelt diese Eindimensionalität in Feminismus und Antirassismus eine gesamtgesellschaftliche Realität wieder, die Crenshaw am Beispiel von Gerichtsprozessen abhandelt. In dem Prozess DeGraffenreid v General Motors beschuldigten fünf Frauen General Motors, dass das Dienstalter-System der Firma Schwarze Frauen diskriminiere. Vor 1964 hätte GM überhaupt keine Schwarzen Frauen eingestellt, und die danach eingestellten Frauen hätten während einer Rezession 1970 wegen des Senioritätsprinzips ihre Stellen als erste wieder verloren. Das Gericht wies die Klage ab mit der Begründung, dass man GM nicht vorwerfen könne, Schwarze zu diskriminieren, da GM ja Schwarze Männer eingestellt hätte. Und dass man GM nicht vorwerfen könne, Frauen zu diskriminieren, da GM ja Weiße Frauen eingestellt hätte. Hier zeigt sich also, dass bei der Betrachtung von Diskriminierung entlang jeweils nur einer Achse Schwarze Frauen aus der Betrachtung herausfallen.
Es erscheint wichtig festzuhalten, dass Crenshaw mit Intersektionalität die Diskriminierungs-Erfahrung Schwarzer Frauen analysiert:
Because the intersectional experience is greater than the sum of racism and sexism, any analysis that does not take intersectionality into account cannot sufficiently address the particular manner in which Black women are subordinated (Crenshaw 1989: 140).
Es geht also um die besondere Art, in der Schwarze Frauen untergeordnet werden. Die intersektionale Erfahrung ist mehr als nur die Summe der Diskriminierungs-Erfahrungen durch Rassismus einerseits und Sexismus andererseits.
Weiters ist festzustellen, dass Crenshaw die von ihr kritisierte Eindimensionalität als gesamtgesellschaftliches Phänomen behandelt, das sowohl den dominanten Diskurs (Justiz) als auch den Diskurs des Widerstands (Feminismus, Antirasissmus) betrifft, sie zwischen diesen Diskursebenen aber anscheinend nicht unterscheidet.
Hervorzuheben ist, dass es Crenshaw nicht um bevorzugte Behandlung der Probleme Schwarzer Frauen geht. Es geht ihr durchaus um Fragen der Solidarität. Sie stellt fest, dass die eindimensionale Sicht auf Diskriminierung es Schwarzen Frauen erschwert oder unmöglich macht, als Repräsentantinnen von Frauen aufzutreten, die auch für Weiße Frauen sprechen können, bzw. als Repräsentantinnen von Schwarzen Menschen aufzutreten, die auch für Schwarze Männer sprechen können. Die eindimensionale Diskriminierungsdoktrin stellt sie vor ein Dilemma:
It forces them to choose between specifically articulating the intersectional aspects of their subordination, thereby risking their ability to represent Black men, or ignoring intersectionality in order to state a claim that would not lead to the exclusion of Black men (Crenshaw 1989: 148).
Dies hat schwerwiegende Folgen für den politischen Kampf:
When one considers the political consequences of this dilemma, there is little wonder that many people within the Black community view the specific articulation of Black women’s interests as dangerously divisive (ebenda).
Um ihren Begriff von Intersektionalität zu illustrieren, benutzt Crenshaw das Bild der Straßenkreuzung (intersection), auf die aus allen Richtungen Fahrzeuge zukommen: Jede Richtung repräsentiert eine bestimmte Achse der Diskriminierung (Rassismus, Sexismus). Die Schwarze Frau steht sozusagen mitten auf dieser Kreuzung.
Weiter unten zeichnet Crenshaw ein weiteres Bild. Diese düstere Metapher ist es wert, im Wortlaut wiedergegeben zu werden:
Imagine a basement which contains all people who are disadvantaged on the basis of race, sex, class, sexual preference, age and/or physical ability. These people are stacked – feet standing on shoulders – with those on the bottom being disadvantaged by the full array of factors, up to the very top, where the heads of all those disadvantaged by a singular factor brush up against the ceiling. Their ceiling is actually the floor above which only those who are not disadvantaged in any way reside. In efforts to correct some aspects of domination, those above the ceiling admit from the basement only those who can say that „but for“ the ceiling, they too would be in the upper room. A hatch is developed through which those placed immediately below can crawl. Yet this hatch is generally available only to those who – due to the singularity of their burden and their otherwise privileged position relative to those below – are in the position to crawl through. Those who are multiply-burdened are generally left below unless they can somehow pull themselves into the groups that are permitted to squeeze through the hatch (Crenshaw 1989: 151-152).
Dieses Bild wirft mehrere Fragen auf:
Wer sind die, die in keiner Weise benachteiligt sind? Weder durch Rasse, noch durch Klasse, noch durch sexuelle Orientierung noch durch Alter oder Behinderung? Weiße, heterosexuelle, körperlich und geistig unversehrte männliche Angehörige der besitzenden Klasse? Was ist ihre Rolle in der Gesellschaft? Und ist im Oberstock tatsächlich Platz für alle? Selbst wenn – was theoretisch vorstellbar ist – jede Diskriminierung nach Rasse, Gender, sexueller Orientierung, Alter und körperlicher Verfasstheit beseitigt wäre, wenn es also ein rein meritokratisches System gäbe – könnten in diesem rein meritokratischen System auch alle zur besitzenden Klasse aufsteigen? Oder geht es nur darum, dass alle die gleiche Chance bekommen sollen, durch die Luke nach oben zu kriechen?
Weiters zeichnet Crenshaw in dieser Metapher eine Hierarchie der Unterdrückung. Die Menschen in der untersten Reihe werden von denen, die auf ihren Schultern stehen, daran gehindert, durch die Luke nach oben zu kriechen. Folgt daraus nicht logisch, dass im Keller ein Kampf um den Platz unter der Luke ausbrechen muss? Aber sollen sich die im Keller auf diesen Kampf einlassen? Sollen sie die schmale Luke akzeptieren? Sollen sie die Unterteilung des Hauses in Oben und Unten akzeptieren? Die Luke vergrößern? Die Zwischendecke wegreißen?
Die Metapher lässt unterschiedliche Deutungen zu.
Eine weitere Frage ist: Geht es beim Konzept der Intersektionalität um besonderen Schutz für besonders von Diskriminierung Betroffene? Oder hilft das Konzept, generell den Kampf gegen Rassismus und Sexismus (und alle ähnlichen „Ismen“) zu führen?
Im Anschluss an die Metapher vom Keller und der Luke schreibt Crenshaw:
As this analogy translates for Black women, the problem is that they can receive protection only to the extent that their experiences are recognizably similar to those whose experiences tend to be reflected in antidiscrimination doctrine (Crenshaw 1989: 152).
Hier geht es also um die Frage des Schutzes. Ein weiteres Zitat weist auf eine breitere Bedeutung hin: Crenshaw zitiert Anna Julia Cooper, eine Schwarze Feministen des 19. Jahrhunderts:
Referring to one of Martin Delaney’s public claims that where he was allowed to enter, the race entered with him, Cooper countered: „Only the Black Woman can say, when and where I enter … then and there the whole Negro race enters with me“ (Crenshaw 1989: 160).
Hier geht es also ums Eintreten in gesellschaftliche Bereiche, die vorher verschlossen waren. Und im Schlussatz bekräftigt Crenshaw:
By so doing, we may develop language which is critical of the dominant view and which provides some basis for unifying activity. The goal of this activity should be to facilitate the inclusion of marginalized groups for whom it can be said: „When they enter, we all enter“ (Crenshaw 1989: 167).
Der Begriff der Intersektionalität dient also der Analyse der Diskriminierungs-Erfahrung von Gruppen, die von mehr als einer Form von Diskriminierung betroffen sind. Diese Analyse solle helfen, den Schutz der betroffenen Gruppen vor Diskriminierung einzufordern und das Bewusstsein zu schaffen, dass die Teilhabe einer Gruppe an allen gesellschaftlichen Bereichen erst dann gewährleistet ist, wenn auch die Teilhabe der am meisten marginalisierten Teile dieser Gruppe gewährleistet ist. Gefordert wird, dass die Anliegen der am meisten Marginalisierten ins Zentrum der theoretischen Analyse und der politischen Auseinandersetzung gestellt werden.
Die Frage ist nun, wie weit der Ansatz der Intersektionalität hilft, dem Problem von Rassismus und Sexismus auf den Grund zu gehen. Der Soziologe Immanuel Wallerstein geht nicht von der Erfahrung der Diskriminierten aus, sondern von der Funktion der Diskriminierung, wenn er schreibt:
This kind of system […] does three things extremely well. lt allows one to expand or contract the numbers available in any particular space-time zone for the lowest paid, least rewarding economic roles, according to current needs. It gives rise to and constantly re-creates social communities that actually socialize children into playing the appropriate roles (although, of course, they also socialize them into forms of resistance). And it provides a non-meritocratic basis to justify inequality. […] It allows a far lower reward to a major segment of the work force than could ever be justified on the basis of merit (Wallerstein 1998: 34).
Die Funktion des Sexismus wiederum sei es, die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen sicherzustellen, die es überhaupt erst ermöglicht, diese niedrigen Löhne zu zahlen:
In such a system, this labour input in non-wage work ‚compensates‘ the lowness of the wage-income and therefore in fact represents an indirect subsidy to the employers of the wage labourers in these house- holds (Wallerstein 1998: 34).
Und die Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist, ein Nachfolgesystem zum Kapitalismus zu (er)finden:
It is a question of whether and how we shall invent new systems that will utilize neither the ideology of universalism nor the ideology of racism-sexism. That is our task, and it is not an easy one (Wallerstein 1998: 36).
Wenn also die Funktion von Rassismus und Sexismus ist, das kapitalistische System aufrecht zu erhalten, dann zeigt sich, dass alle, denen dieses System Schaden zufügt, sei es in Form unsicherer Arbeitsverhältnisse, sei es in Form der Umweltschäden, die dieses System verursacht, der Gefährdung der Zivilisation durch den Klimawandel, sei es durch Kriege, die dieses System hervorbringt und die immer noch das Potential haben, die Menschheit zu vernichten – das sie alle, also auch die Mehrheit der Männer, auch die Mehrheit der Weißen, Opfer von Sexismus und Rassismus sind.
Wenn Analyse der Erfahrung der Diskriminierung nicht mit der Analyse der Funktion der Diskriminierung verbunden wird, dann besteht die Gefahr, dass die Bestrebungen zur Beseitigung von Diskriminierung nicht zur Solidarität der unterschiedlichen und sich überschneidenden Gruppen führen, sondern zum Wettstreit darum, wer zuerst durch die Luke in der Kellerdecke kriechen darf und zu „Oppression Olympics“, also dem gegenseitigen Messen, wer unterdrückter ist und der daraus resultierenden Konkurrenz um die Deutungshoheit im jeweiligen antidiskriminatorischen Diskurs. Zwei Jahrzehnte nach Crenshaws Artikel schreibt die Theoretikerin der Intersektionalität Ange-Marie Hancock einen „Guide to Ending the Oppression Olympics“ (Hancock 2011). Die Wörter „capitalism“ oder „capitalist“ kommen darin nicht vor, wie man mit einer Suche in Google Books leicht feststellen kann, und auch „colonialism“ erscheint nur in einem Literaturverweis. Das Streben nach Schutz vor Diskriminierung bleibt im System verhaftet.
Eine weitere Gefahr besteht im gegenseitigen Aufrechnen von Privilegien – was ja nur die andere Seite von Oppression Olympics ist. Intersektionalität stellt die relative Privilegiertheit von Untergruppen heraus, fragt aber auch nicht nach der Funktion dieser scheinbaren oder wirklichen Privilegien.
Arjun Appadurai schreibt über die antimuslimischen Ausschreitungen in Gujarat 2002, die hinduistischen Nationalisten hätten den Muslimen vorgeworfen, sie seien der muslimischen Welt gegenüber loyaler als gegenüber Indien. Sie hätten die Muslime der sexuellen Unmoral und der Unterdrückung ihrer Frauen beschuldigt. Sie hätten jede Erfüllung irgendeiner Forderung der muslimischen Gemeinschaft als „Beschwichtigungspolitik“, als einen Schritt hin zur Kapitulation vor Pakistan hingestellt (Appadurai 2009: 93). Setzen wir für Hindus Arier ein, für Muslime Juden und für Pakistan England – woran erinnert uns diese Beschreibung?
Appadurai selbst stellt die Angst vor der Verunreinigung (das ist das vorherrschende Thema in diesem Buch) nicht als politisches Werkzeug, sondern als die eigentliche psychologische Triebfeder für Attacken auf Minderheiten dar, auch wenn er festhält,
daß die Idee einer hinduistischen Mehrheit in Wirklichkeit die numerische Minderheit der oberen Kasten verschleiert. Diese landbesitzenden Kasten haben […] einen Aufstieg der unteren Kasten nämlich weit mehr zu fürchten als die dortigen Muslime (Appadurai 2009: 91).
Helene Basu schreibt in ihrer Untersuchung über die riots:
Erfolg und Reichtum muslimischer Wirtschaftsunternehmer erregen Neid, der von Ideologen der hindu-nationalistischen Bewegungen als „gerechte Empörung“ über die „Ausbeutung von Hindus durch Muslime“ geschürt wird. Dies wird z. B. auf Flugblättern deutlich […]. In einem solchen Pamphlet wird zum Boykott von muslimischen Wirtschaftsunternehmen aufgerufen; kleine und große muslimische Betriebe […] und ihre angeblichen Einkünfte werden aufgelistet, muslimische Geschäftsleute als skrupellose Ausbeuter gebrandmarkt, die sich von vertrauensseligen Hindus unrechtmäßig „hinduistisches Geld“ aneignen, um zum Dank ihre Frauen zu vergewaltigen und schließlich einen Glaubenskrieg zu führen (Basu 2004: 238).
Ziehen wir noch ein anderes Beispiel heran, den Genozid in Ruanda 1994. In ihrem Bericht für Human Rights Watch fasst Alison Des Forges zusammen:
This genocide resulted from the deliberate choice of a modern elite to foster hatred and fear to keep itself in power. This small, privileged group first set the majority against the minority to counter a growing political opposition within Rwanda. Then, faced with RPF success on the battlefield and at the negotiating table, these few powerholders transformed the strategy of ethnic division into genocide. They believed that the extermination campaign would restore the solidarity of the Hutu under their leadership and help them win the war, or at least improve their chances of negotiating a favorable peace. They seized control of the state and used its machinery and its authority to carry out the slaughter (Des Forges 1999: 1-2).
Diese Beispiele sollen illustrieren, wie die Spaltung einer Gesellschaft in privilegierte Mehrheit und diskriminierte Minderheit entlang Rassen-, Gender-, oder religiösen Linien funktioniert, um die Interessen einer Elite-Minderheit als die Interessen der Mehrheit darzustellen. Sie sollen zeigen, wie auch die relativ Privilegierten zu Opfern dieser Spaltung werden.
Die Aufforderung: „Check your privilege“ kann innerhalb des widerständigen Diskurses nützlich sein, um die Aufmerksamkeit der relativ privilegierten Gruppe auf die Anliegen der intersektional diskriminierten Gruppe(n) zu lenken und sie daran zu erinnern, dass sie nicht die alleinige Deutungshoheit besitzt. Doch wenn das Aufrechnen von Privilegien dazu führt, dass Personen oder ganze Gruppen aus dem antidiskriminatorischen Diskurs und der damit verbundenen politischen Praxis ausgeschlossen werden, hat das Prinzip des Teilens und Herrschens wieder einmal gesiegt.
Dieser Beitrag will die Verdienste der intersektionalen Analyse in keiner Weise schmälern. Sehr wohl soll aber auf die Grenzen einer Analyse hingewiesen werden, die sich auf die Erfahrung der Diskriminierung und den Schutz vor Diskriminierung beschränkt. Eine Solidarisierung aller diskriminierten Gruppen wird nur möglich, wenn auch die Funktion der Diskriminierung für die Erhaltung des kapitalistischen und kolonialistischen Systems in die Analyse mit einbezogen wird.
Literatur
Appadurai, Arjun/Engels, Bettina (Übers.). 2009. Die Geographie des Zorns, Frankfurt am Main.
Basu, Helene. 2004. Riots, in: Historische Anthropologie 12, 2: 228–242.
Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989 (1), S. 139–167.
Des Forges, Alison Liebhafsky (1999): „Leave none to tell the story“. Genocide in Rwanda. New York, Paris: Human Rights Watch; International Federation of Human Rights.
Hancock, Ange-Marie (2011): Solidarity Politics for Millennials: A Guide to Ending the Oppression Olympics. New York: Palgrave Macmillan.
Wallerstein, Immanuel Maurice (1998): The Ideological Tensions of Capitalism: Universalism versus Racism and Sexism. In: Étienne Balibar und Immanuel Maurice Wallerstein: Race, nation, class : ambiguous identities. London [u.a.]: Verso.