Mittwoch 11. April 2012 19:00
Café Anno: Lerchenfelderstraße 132, 1080 Wien
Mit farbigen Lichtbildern
Die Illustrationen stammen von Linda Wolfsgruber.
„In meiner Studentenzeit in den 70er Jahren machten mich Freunde aus Innsbruck bekannt mit einem Mann, den Zeitungsschreiber nicht anders denn als „Original“ bezeichnen würden. In den Herbst- und Wintermonaten konnte man ihn regelmäßig in gewissen Weinstuben der Stadt antreffen, wo er geduldet war, und wo er, wenn man ihm ein Viertele zahlte, sich mit Erzählungen und Vorträgen revanchierte. Seine Räusche schlief er sich winters im Obdachlosenasyl aus. Sommers diente er als Hirte auf einer Alm bei Prutz. Der Hutzler Matthiesl war, als ich ihn kennen lernte, in den Fünfzigern, er musste also in den 20er Jahren geboren worden sein. Seine Mutter, erzählte er, sei eine Gemeindearme gewesen, die Hutzler Mirl, ein stark beschränktes Weiblein mit einem ewigen Kindergesicht, die jeder hergenommen hätte, der gerade Lust gehabt hätte. Dies sei insofern praktisch gewesen, weil sie sowieso immer Totgeburten hatte, so dass es keine Probleme mit der Vaterschaft gab. Zum Gebären versteckte sie sich immer im Wald, und die toten Kinder trug sie mit sich herum und man musste sie ihr gewaltsam entreißen, bevor sie zu stinken anfingen. Nur einmal hätte sie ein lebendes Kind zur Welt gebracht und das sei eben er, der Hutzler Matthiesl gewesen. Bis zum zehnten Lebensjahr lebte Hutzler bei der Mutter im Armenhaus. Dort hauste außer seiner Mutter noch eine Alte, die er Großmutter nannte, ein Kräuterweibl voller Geschichten und Sprüche über Lostage und Mondphasen und allerhand Hexenkram. Als der Bub zehn war, war er stark genug zum Arbeiten und musste reihum bei den maßgeblichsten Gemeindemitgliedern Knechtsdienste tun. Sommers wurde er auf die Alm geschickt. Unter den Nazis wurde seine Mutter in eine Anstalt gesteckt. Er hörte nie mehr etwas von ihr. Als er einberufen werden sollte, versteckte er sich in den Wäldern. Nach dem Krieg war er als Saisonarbeiter einmal da, einmal dort, kam in ganz Europa herum, doch zog es ihn immer wieder auf die Alm. In den Wintermonaten, wenn es für ihn nichts zu verdienen gab, schlief er im Obdachlosenasyl. Die Abende konnte er bei einem Viertele im Wirtshaus verbringen, doch für die langen dunklen Vormittage und Nachmittage entdeckte er die Bibliotheken als warmen und abwechslungsreichen Aufenthaltsort. Dort eignete er sich im Lauf der Jahre eine vielfältige chaotische Bildung an, durchstreifte die Welt des Wissens auf krummen Pfaden, nur seinen persönlichen Interessen und Launen folgend. Die G’schichtlan der Großmutter, seine Erfahrungen mit den Menschen, das Schicksal seiner Mutter, das alles musste doch irgendwie mit dem Wissen der Welt unter einen Hut zu bringen sein.“
Martin Auer („The Voice“) rezitiert, deklamiert, räsoniert, schwadroniert, agitiert … und trägt dabei seinen schwarzen Hut!
Anschließend wie immer GESELLIGES BEISAMMENSEIN.
Eintritt: frei