Wozu Fachgeschichte und wer soll sie schreiben?
Die Kultur- und Sozialanthropologie und ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte und zu den Geschichtswissenschaften
Zwischentagung der Arbeitsgruppe Fachgeschichte für die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde 2017
Ort: Wien
VeranstalterInnen: Peter Schweitzer (Vorstand des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien), Marie-France Chevron, Peter Rohrbacher (beide Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien)
Datum: 9.–10. 12. 2016
Von Martin Auer
Das ist die ungekürzte Version des Berichts. Die offizielle Version ist auf H/SOZ/KULT erschienen:
Die Frage: „Wozu Fachgeschichte?“ rüttelt an den Grundfesten, betonten die OrganisatorInnen in ihrer Einleitung. Die Geschichte des Fachs wird oft nicht von den Vertretern des Fachs geschrieben, sondern von Historikern. Und da müssen Kommunikationsprobleme und Vorurteile überwunden werden: Können Ethnologen überhaupt die eigene Geschichte schreiben? Können andererseits Historiker diese Geschichte schreiben, ohne über Detailkenntnisse des Fachs zu verfügen? Wie unterschiedlich die Zugänge auch sein mögen, Fachgeschichte wird immer wichtiger.
FELIX WIEDEMANN (Berlin), erläuterte in seinem Referat Zur Rolle von Migrationen in kulturhistorischen Narrativen um 1900 am Beispiel des vorderen Orient unterschiedliche Herangehensweisen: Ethnologen gehen an die Fachgeschichte normalerweise aus einer internalistischen oder präsentistischen Perspektive heran, also ausgehend von einem spezifischen Problem in der Gegenwart. Ansätze, die in der gegenwärtigen Debatte nicht mehr von Bedeutung sind, sind aus dieser Sicht nicht besonders relevant. Gerade solche überholten Ansätze können aus externalistischer oder historischer Sicht aber höchst interessant sein. Denn hier interessiert in erster Linie die Genese bestimmter Diskurse in einem bestimmten Zeitraum und nicht die Frage: „wahr oder falsch“. Wiedemann führte das anhand des Migrationismus eines Friedrich Ratzel und einer Reihe seiner Nachfolger aus. Migration war schon zur Zeit der ersten Globalisierung und auch nach dem 1. Weltkrieg ein bestimmendes Thema in Politik, Wissenschaft und Kultur. Die Geschichte der Wanderungen der Wüstennomaden so zu erzählen, dass sich eine zyklische Gesetzmäßigkeit ergibt, nach der in bestimmten Abständen weniger kultivierte Völker, die sich in einem „fluiden“ Naturzustand befinden, aus den Wüsten- und Steppengebieten heraus die „Kulturgebiete“ überschwemmen, gleichzeitig zerstörerisch aber auch befruchtend und erneuernd, ist ein Versuch, diese „wilde Kontingenz“ nomothetisch in den Griff zu bekommen oder wenigstens in eine „geregelte Kontingenz“ zu überführen. Solche Modelle können einer Tendenz zugeordnet werden, die Kultur- und Sozialwissenschaften durch das Aufstellen nomothetischer Modelle den Naturwissenschaften anzunähern und so die soziale Welt kontrollierbarer zu machen. Im romantischen Bild des „edlen Beduinen“, der immer wieder die dekadente etablierte Kultur zerstört und erneuert, schlägt sich aber auch der Kulturpessimismus des Fin de Siècle nieder.
PETER ROHRBACHER (Wien) zeigte anhand des Fallbeispiels Dominik Wölfel in der NS-Zeit die Notwendigkeit von thematischer Differenzierung und Detailforschung auf. Wölfel wurde 1935 als Kustos für Afrika am Wiener Museum für Völkerkunde pragmatisiert, verlor jedoch diese Stellung in der NS-Zeit aufgrund seiner „jüdischen Versippung“, nämlich der Ehe mit einer „Halbjüdin“. Nach dem Krieg erhielt er seine Stelle zurück und galt als Opfer des NS-Regimes. Neben anderen Ehrungen wurde in Wien eine Gasse nach ihm benannt. Seit den 1990er Jahren wird das Opferbild jedoch gründlich angezweifelt. Wölfel erhielt nämlich trotz seiner Suspendierung relativ hohe wissenschaftliche Förderungen und er veröffentlichte 1937 ein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, das ihn als Franco-Verehrer ausweist und antisemitische Äußerungen enthält. Die mit der Überprüfung der Wiener Straßennamen befasste HistorikerInnenkommission stufte die nach ihm benannte Gasse als „Fall mit intensivem Diskussionsbedarf“ ein. Er habe das „NS-Unrechtsregime durch öffentliches Wirken“ gestützt wie auch generell „antidemokratische Regime“. Solchen Brüchen auf den Grund zu gehen und Überlieferungen, die unterschiedliche Auslegungen erlauben, einer gründlichen Revision zu unterziehen, ist nun eine der Aufgaben der Fachgeschichte. Detailforschung ergibt, dass Wölfel ursprünglich auch wegen politischer Gegnerschaft entlassen hätte werden sollen. Das SS-Ahnenerbe plante jedoch, die von Wölfel aufgefundene Torriani-Handschrift zu publizieren, um sie als Beweis für die „arische“ Abstammung der blonden und blauäugigen Urbevölkerung der Kanarischen Inseln zu verwenden. Darum durfte Wölfel – wie aus einer Intervention des Ahnenerbe klar wird – offiziell nicht als politischer Gegner aufscheinen. Wölfel unterlief allerdings die Intentionen des Ahnenerbe durch Anhänge, die veranschaulichten, dass das Indogermanische auf den Kanarischen Inseln nicht greifbar war. Wölfel’s Spanienbuch – an dem ja auch seine Frau mitarbeitete – wertet Rohrbacher als Versuch, Francos Wohlwollen zu erlangen, um sich samt Familie auf den Kanarischen Inseln niederlassen zu können. Der NS-Sicherheitsdienst stufte das Werk trotz eingeflochtener Goebbels-Zitate als deutschfeindlich ein und Wölfel wurde die Ausreise verweigert. Die Forschungsgelder von knapp 20.000 RM schließlich erhielt Wölfel auf Initiative seiner Förderer Diedrich Westermann und Eugen Fischer für seine „Kanarischen Sprachdenkmäler“. Beide besetzten leitende Funktionen innerhalb des kolonialen Reichsforschungsrates, sie standen theoretisch im Gegensatz zum Ahnenerbe und waren an Wölfels „Weißafrika“-These interessiert. Mit den Geldern konnte Wölfel unter anderem den aus „rassischen Gründen“ pensionierten Bruder seiner Frau als Hilfskraft anstellen und später auch die wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ entlassene Annemarie Hefel, die er so vor einer Einberufung als Marinehelferin bewahren konnte. Rohrbacher kommt zu dem Schluss, dass das von der Historikerkommission vorgelegte „belastende Beweismaterial“ in Bezug auf Dominik Josef Wölfel in der NS-Zeit nicht standhält und somit ihre Interpretation zurückzuweisen ist.
KHALED HAKAMI (Wien) erklärte, warum die meisten Menschen Progressivisten sind und
Herbert Spencer protestiert hätte. Eine Untersuchung österreichischer Schulbücher ergibt, dass hier durchgehend ein Bild menschlicher Entwicklung von der kulturlosen, elenden Steinzeit zu immer höheren Stufen gezeichnet wird. Eric Wolfe kritisiert solchen Schulbuch-Evolutionismus als „moralische Erfolgsstory“. Stephen K. Sanderson und Robert. L. Carneiro haben gezeigt, dass diese populäre Sichtweise nicht von Autoren wie Morgan, Tylor und Spencer geprägt wurde, sondern ihnen von ihren Kritikern, hauptsächlich Vertretern des Kulturrelativismus, mehr oder weniger unterschoben wurde. Hakami zitiert hier den Boas-Schüler Robert Lowie: „In its classical form the evolutionary theory held that all cultures must pass through the same stages of moral development.“ Das gleiche Urteil findet sich bei Linton, Boas, Goldenweiser. Die Lektüre der Primärtexte zeigt aber ein anderes Bild. So hat Spencer in seinem Aufsatz Progress, its Law and Cause genau diese teleologische Auffassung von Fortschritt kritisiert. Was Spencer tatsächlich tut, ist: Komplexität erforschen. In seinen Principles of Sociology schreibt er: „Evolution is a change from indefinite incoherent homogeneity to a definite coherent heterogeneity, through continuous differentiations and integrations.“ Wenn Gesellschaften wachsen, verändert sich auch ihre Struktur. Das ist heute ein Gemeinplatz in der Soziologie. Objektives Kriterium für Komplexität ist laut Spencer Ausdifferenzierung und Integrierung. Mit zunehmender Bevölkerung steigt die Arbeitsteilung und damit auch die Integration. Aber Komplexität bedeutet nicht automatisch „Fortschritt“. Den Unterschied zwischen einer teleologischen und einer deterministischen Anschauung erklärt Robert Carneiro: Zu sagen, dass auf die Entwicklungsstufe A die Stufe B folgen muss, ist teleologisch und falsch. Richtig ist aber zu sagen, dass, wenn eine Gesellschaft sich auf Stufe B befindet, sie vorher A durchlaufen haben muss. Im Gegensatz zur Anthropologie wird Spencer in der Makrosoziologie bis heute rezipiert und sein Prinzip, dass Entwicklung zunehmende Komplexität bedeutet, angewandt. Hakami betont den Unterschied zwischen Theorien und Prinzipien. Obwohl die meisten Theorien der Evolutionisten in ihrer konkreten Ausformung heute falsifiziert sind, behalten ihre Prinzipien weiterhin Gültigkeit, ähnlich wie Darwins Prinzip der natürlichen Auslese bis heute gültig ist, obwohl die meisten seiner konkreten Theorien sich als falsch herausgestellt haben. Zusätzlich zu einer emischen Sichtweise, die Spencer in den Kontext seiner Zeit stellt, brauche es auch eine etische Außensicht, die Theorien aufgrund des Falsifikationskriteriums evaluiert. So könne man nicht nur eine Geschichte der Theorien schreiben, sondern eine Geschichte richtiger und falscher Theorien.
Wozu Bastian fragte bündig MARIE-FRANCE CHEVRON (Wien). Wozu einen Autor lesen, der 1905 gestorben ist, zwar als Reisender und Begründer wichtiger Institutionen bekannt ist, der aber als antiquiert gilt, den die wenigsten gelesen haben und dessen Schriften in der Tat unleserlich sind? In ihrer Antwort stellt Chevron heraus, dass Adolf Bastian von Anfang an eine multidisziplinäre und interdisziplinäre Herangehensweise an die Wissenschaft vom Menschen forderte. Er wollte einen Weg finden, die Ethnologie als Wissenschaft zu begründen, damit sie an den großen Forschungen über die Menschheit mitarbeiten konnte. Er suchte nach Erklärungen für die Unterschiede und Ähnlichkeiten in den Lebensweisen der Menschen, die er auf seinen Reisen weltweit erlebt hatte. Durch den Vergleich der „Völkergedanken“, der verschiedenen Kulturen, wollte er zu den „Elementargedanken“, den grundlegenden Denkstrukturen der Menschen vordringen. Ähnliche Ansätze findet man bei Lévi-Strauss. Aufgabe der Ethnologie sei es, Materialien zu den Völkergedanken zu sammeln, sowohl Objekte als auch Erzählungen, um diesen Vergleich zu ermöglichen. Aufgrund dieser Forderungen wurde Feldforschung – empirische Erhebung – als Voraussetzung der Ethnologie festgelegt. Dies im Rahmen einer Arbeitsteilung mit anderen Wissenschaften. Ethnologie könne sich nicht bloß durch ihr Objekt definieren, sondern nur durch ihre Stellung im System der Wissenschaften. Bastian forderte, die Ergebnisse der Biologie und der Psychologie in die Überlegungen einzubeziehen, die Ursachenkette von den physiologischen Grundlagen der psychischen Vorgänge und die Übergänge höheren Denk- und Reflexionsleistungen erforschen. Da die „Völkergedanken“ kulturelle Überlagerungen von psychologischen Strukturen darstellten, Anpassungen unter dem Einfluss von Umweltbedingungen in den verschiedenen geographischen Provinzen, aber auch historisch bedingt seien, suchte er die Zusammenarbeit mit der Geographie und der Geschichtswissenschaft. Wesentlich war ihm der Grundgedanke der psychischen Einheit der Menschheit. Fachgeschichtlich ist Bastian wichtig, weil er Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bereichen aufgedeckt hat. An seinem Beispiel kann man erkennen, wie Möglichkeiten und Weichenstellungen im Fach sichtbar werden. Generell hilft Fachgeschichte erkennen, wie aus unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten wissenschaftliche Spezialisierungen – wie Ethnologie, Volks- und Völkerkunde, Soziologie – entstanden sind und wie sie als Ergebnis von konkurrierenden Erklärungsansätzen zu weiteren Überlegungen geführt haben. Das bedeutet unter anderem, dass man verschiedene heutige Ansätze besser einordnen kann, und im Sinn der Forschungsökonomie das Rad nicht neu erfinden muss. Die Wege, wie Ergebnisse zustande kommen, müssen dargestellt werden, aber auch die Irrwege.
ZSÓFIA HACSEK (Wien) zeigte in ihrem Beitrag Ethnologie in Ungarn – Wo liegen die Wurzeln? auf, dass das Studium der Fachgeschichte wesentlich sein kann, wenn es gilt, auf politische bzw. bildungspolitische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die gegenwärtige ungarische Regierung plant, die seit 1990 bestehenden Studienrichtungen – und damit auch die Organisationen – der Kulturanthropologie in den nächsten Jahren abzuschaffen, mit der Begründung, sie seien unnötig und hätten in Ungarn keine Wurzeln. Es ist eine ungarische Besonderheit, dass das gleiche Wort néprajz von Anfang an sowohl für volkskundliche als auch für völkerkundliche Forschungen verwendet wurde. Die ersten Einrichtungen dieser Wissenschaft wurden kurz nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich gegründet, in einer Zeit starker nationalistischer Ressentiments gegen die österreichische Reichshälfte. Aus ideologischen Gründen wurden daher die volkskundlichen Richtungen der néprajz stets bevorzugt gegenüber den völkerkundlichen und gesellschaftsforschenden Richtungen. Die Rezeption der außereuropäischen Forschungen ungarischer Wissenschaftler hing stark von deren Ungarnbezug ab. Wenn ForscherInnen beweisen konnten, dass ihr Thema historische oder linguistische Bezüge zu Ungarn hatte, wurden die Reisen mit einem breiten Interesse verfolgt und gerne von ungarischen Privaten oder von der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft, gefördert. Der Indienforscher Aurél Stein und der Afrikaforscher Emil Torday arbeiteten im britischen Dienst. Letzterer wurde beispielsweise von Malinowski hoch geschätzt, aber seine Forschungsergebnisse blieben in Ungarn fast unbekannt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch die völkerkundlichen und gesellschaftsforschenden Richtungen in Ungarn weit zurückliegende Wurzeln haben und nicht erst seit 1990 bestehen, dass aber ihre Rezeption aus ideologischen Gründen fast immer in den Hintergrund gedrängt wurde.
GABRIELE ANDERL (Wien) berichtete über Ergebnisse und Problemstellungen der Provenienzforschung am Beispiel des Wiener Weltmuseums. Auch in diesem Museum wurde auf Basis des Kunstrückgabegesetzes von 1998 im Auftrag des Bundes Provenienzforschung durchgeführt mit dem Ziel, jene Objekte aufzuspüren, die zwischen 1933 und 1945 verfolgungsbedingt entzogen worden waren, und die Rückgabe an die rechtmäßigen EigentümerInnen in die Wege zu leiten. Rund 4.500 Objekte wurden in dieser Zeit erworben, aber oft erst Jahre später katalogisiert. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass ethnographische Sammelstücke oft Alltagsgegenstände sind, die nicht wie Kunstgegenstände signiert oder datiert sind oder andere Provenienzspuren tragen. Auch weisen die Aktenbestände große Lücken auf. Anderls Vorgängerin Ildikó Cazan konnte bereits zwei Dossiers anlegen, unter anderem zum Fall Stefanie Demeter, die 1942 in Maly Trostinec ermordet wurde, deren Erben aber bis heute nicht gefunden werden konnten. Außereuropäische Ethnographica spielten in den Sammlungen des Wiener Bürgertums nur eine geringe Rolle. Eine Ausnahme war die Sammlung des bekannten Herrenausstatters Friedrich Wolff-Knize, die neben Gemälden auch eine beachtliche Anzahl Africana umfasste. Dass das Museum für Völkerkunde im Vergleich zu anderen Museen sich nur wenig an jüdischem Besitz bereichert hat, lag nicht am mangelnden Willen, sondern nur an mangelnder Gelegenheit. Das belegt der Schriftverkehr im Zusammenhang mit dem Erbe des Afrikaforschers Ludwig Ritter von Höhnel, dessen Witwe Valeska als „Volljüdin“ galt. Die Leitung des Museums ließ die zuständigen Stellen wissen, dass sie „in erheblichem Maße am Erwerb dieser schönen Sammlung interessiert“ sei. Das Gausippenamt ermahnte die Behörde, „dass bei einem eventuellen Abtransport der genannten Jüdin ein Vernichtung bzw. Beschädigung der wertvollen Sammlung verhütet werden müsse“. Die Deportation und Enteignung Valeska Höhnels wurde allerdings durch einen befreundeten Arzt, der NSDAP-Mitglied war, verhindert. Nicht im Museum verblieben sind ca. 900 Objekte aus dem alten Jüdischen Museum, die während der NS-Zeit dorthin verbracht, aber nicht inventarisiert wurden. Auch die beschlagnahmten Bestände aus St. Gabriel wurden retourniert, da keine rechtsgültige Eigentumsübertragung erfolgt war. 2007 hat der Kunstrückgabebeirat die Rückgabe von mehr als 40 Gegenständen, die als „Spende“ in den Besitz des Museums gelangt waren, an die Erben des 1939 geflüchteten Ärztepaares Dr. Hans und Else Abels beschlossen. Erst in der jüngeren Zeit werden in ethnographischen Sammlungen auch frühere Eigentumsverhältnisse der Objekte dokumentiert. Daher ist bei vielen Objekten die Herkunftsbestimmung fast aussichtslos, und der größte Teil der untersuchten Objekte musste als „offen“ klassifiziert werden. Nur ein kleiner Teil konnte eindeutig als „bedenklich“ oder „unbedenklich“ eingestuft werden.
GABRIELE HABINGER (Wien) präsentierte einen genderspezifischen Zugang zur Disziplin- und Institutionengeschichte am Beispiel des Werdegangs von Annemarie Hefel – wissenschaftliche Hilfskraft am Wiener Institut für Völkerkunde während der NS-Zeit. Sie war die erste Frau, die eine wissenschaftliche Anstellung an diesem Institut erhielt. Die Frage stellt sich, wie ihr das angesichts des Weiblichkeitsbildes des NS-Regimes gelingen konnte, noch dazu, wo sie als regimekritisch galt und enge Beziehungen zu den bereits vertriebenen Padres Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers unterhielt. Dennoch wurde ihr von Heinrich Baumann, den die Nationalsozialisten anstelle von Koppers eingesetzt hatten, kurz nach ihrer Promotion im Juni 1941 eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft angeboten. Unterschiedliche Faktoren wirkten zusammen, um das zu ermöglichen. Zunächst war Baumann vor allem an der fachlichen Qualifikation seiner MitarbeiterInnen interessiert, nicht so sehr an der politischen Einstellung, wenn sie nicht nach herausgestellt wurde. Zweitens hatte Hefel ihr Studium gerade zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als männliche Kräfte aufgrund der militärischen Ereignisse immer rarer wurden. Ab 1942 gab es im Hauptfach Völkerkunde keine Studienabschlüsse mehr. Drittens brauchte er dringend jemand, der die Afrika-Lehrsammlung, die von Berlin nach Wien transferiert worden war, aufarbeitete, und die Anthropos-Bibliothek, die sich seit Ende November in Baumanns Arbeitszimmer befand, katalogisierte. Die Anstellung war zunächst auf drei Monate befristet und wurde einmal verlängert, ausdrücklich als Kriegsersatz für den Assistenten Josef Haekel. Die Arbeitsbelastung war groß und die Bezahlung gering. Schließlich war Hefel aber politisch doch nicht mehr tragbar für Baumann und er drangsalierte sie, bis sie schon im April 1942 kündigte. Eine Anstellung am Naturhistorischen Museum, die sie anstrebte, wurde von Baumann verhindert, vor dem Kriegseinsatz rettete sie eine Anstellung durch Dominik Wölfel. Erst nach 1945 gelang ihr eine Karriere als Afrikanistin. Am Beispiel Hefels und anderer Wissenschaftlerinnen zeigt sich, dass Frauen in der NS-Zeit nur unter bestimmten Umständen in den Wissenschaftsbetrieb eindringen konnten. Soziale Herkunft, Beziehungen und Netzwerke spielten eine wesentliche Rolle. Weiters galt es, der Lehrmeinung des Institutsvorstands zu entsprechen. Schließlich wurden Frauen nur als Ersatz für zum Wehrdienst eingezogene männliche Kollegen eingestellt und ihre Laufbahn ausdrücklich auf die Zeit von deren Abwesenheit beschränkt. Die Wissenschaftlerinnen wurden in untergeordneten Stellungen belassen, stark beansprucht und nicht entsprechend entlohnt oder befördert. Festgehalten muss werden, dass auch jene, die sich in Opposition zum NS-Wissenschaftsbetrieb befanden, trotzdem ihren Beitrag dazu leisteten. Eine Auseinandersetzung mit dem historischen Ausschluss von Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb und dessen Mechanismen liefert auch für die Gegenwart aufschlussreiche Erkenntnisse. So zeigt sich, dass weibliche wissenschaftliche Karrieren nicht in ihrer Singularität zu betrachten sind, sondern immer auch vor dem Hintergrund struktureller Zusammenhänge.
Der Beitrag von ANDRE GINGRICH (Wien) über ein Kapitel der NS-Geschichte der anthropologischen Fächer in Wien, nämlich über die Rolle von Viktor Christian, „graue Eminenz“ der Wiener Völkerkunde, bildete den Abschluss des ersten Konferenztages. Christian war von 1938–1945 Dekan der philosophischen Fakultät und 1938–1940 geschäftsführender Vorstand des Instituts für Völkerkunde. Er war Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (AGW) bis 1945, Leiter der „Lehr- und Forschungsstelle Vorderer Orient“ im SS-Ahnenerbe und bis zu seinem Tod Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Konkret ging es 1.) um den Ausschluss Studierender 1938/39 von der Universität; 2.) um die „Forschungen“ des Naturhistorischen Museums und der Akademie der Wissenschaften in den Kriegsgefangenenlagern Kaisersteinbruch und Wolfsberg 1942/43; und 3.) um die Komplizen- und Mitwisserschaft der völkerkundlichen Mitglieder der AGW und ihres Präsidenten in Bezug auf die „Rassegutachten“ der Wiener physischen Anthropologen Geyer, Tuppa, Routil und Wastl 1940–44. Zu Punkt 1.) kommt Gingrich zu dem Ergebnis, dass Christian für die Ausschlüsse, die 30% bis 35% der Studierenden betrafen, de jure verantwortlich war, de facto die Listen zum Teil schon vorbereitet waren, zum Teil von seine beiden Assistenten erstellt wurden. Zu Punkt 2.): Die Finanzierung der Untersuchungen, an denen auch der Ethnologe Martin Gusinde beteiligt war, wurde vom Präsidenten der Akademie Srbik im Einvernehmen mit Viktor Christian beschlossen. Zu Punkt 3.) lautet die Schlussfolgerung, dass Christian als Präsident der Anthropologischen Gesellschaft als Mitwisser, Förderer und Beschützer von Tätern angesehen werden muss, die sich kriminalhistorisch gesehen der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Die Frage nach dem „Wozu“ der Fachgeschichte beantwortete Gingrich mit dem Verweis auf die Verantwortung in gegenwärtiger politischer, medialer, aber vor allem auch ethisch-moralischer Hinsicht. Ein Fach, das seine Beteiligung am „Damals“ verschweigen würde, verliert seine Legitimität in der Gegenwart. Zum „Wie“ stellte er fest, dass zum Verständnis der Vorgänge das Fachwissen der EthnologInnen und AnthropologInnen erforderlich ist, dass eine rein „emische“ Sicht aber nicht ausreicht. Denn es ist schließlich wesentlich herauszufinden, wer wie und in welchem Ausmaß verfolgt wurde, und darüber geben die Sichtweisen der Akteure keine ausreichende Auskunft. Darum plädierte Gingrich für eine pluralistisch diversifizierte Zugangsweise, die emischen und etischen Zugängen ebenso ihre Legitimität zugesteht wie jenen, die in einem „dritten Weg“ beides zu integrieren trachten – eventuell auch nach Gesichtspunkten der „Abduktion“.
KATJA GEISENHAINER (Wien) ging den Verbindungen zwischen Frankfurter und Wiener Völkerkundlern von der Zwischenkriegszeit bis in die unmittelbaren Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Die Netzwerke zwischen Wiener und Frankfurter Völkerkundlerinnen und Völkerkundlern waren im Vergleich zu anderen fachspezifischen Verbindungen zwischen Österreich und Deutschland besonders intensiv. Die Erklärung findet Geisenhainer darin, dass in beiden Städten ein kulturhistorischer Ansatz vertreten wurde. In Frankfurt durch Leo Frobenius mit seiner Kulturmorphologie, in Wien durch die Patres Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers mit ihrer religiös basierten Kulturkreislehre. Selbst als Koppers 1938 entlassen wurde und Hermann Baumann 1940 seine Nachfolge antrat, wurde dieser Ansatz weiterverfolgt, jedoch modifiziert durch die Annahme, dass Kultur und eine vorausgesetzte Rasse eine Einheit bildeten. Frobenius hielt sowohl vor als auch nach dem „Anschluss“ Österreichs Vorträge in Wien. Der Wiener Oswald Menghin, der nach dem „Anschluss“ als Unterrichtsminister für die Säuberungen an der Universität Wien verantwortlich war, wurde von Frobenius 1923 und 1938 zu Vorträgen nach Frankfurt eingeladen. Hermann Baumann unterhielt zu Frobenius‘ Kulturmorphologischem Institut enge Verbindung, obwohl in den dort betriebenen Studien rassenkundliche Ansätze nahezu keine Rolle spielten. Der als „politisch unzuverlässig“ und „jüdisch versippt“ eingestufte Mitarbeiter Frobenius‘ Adolf Ellegard Jensen, dem die Lehrbefungnis entzogen worden war, konnte mit Hilfe des kolonialpolitischen Amtes weiter wissenschaftlich arbeiten. Er unterhielt Kontakt mit dem Wiener Dominik Wölfel, der in einer ähnlichen Lage war. Jensen unterhielt auch Kontakt mit P. Wilhelm Schmidt im Schweizer Exil. Nach dem Krieg übernahm er die Leitung des Frobenius-Instituts und setzte sich – auf deren Bitten – für die nationalsozialistisch belasteten Baumann und Menghin ein. Der Graebner-Schüler Paul Leser (Frankfurt) und der Schmidt-Schüler Robert von Heine-Geldern (Wien) mussten beide wegen ihrer jüdischen Herkunft fliehen. Beide hielten im Exil Kontakt zueinander und auch zu Koppers und Schmidt. Nach dem Krieg setzte sich Koppers gemeinsam mit Heine-Geldern für eine Wiedergutmachung für Paul Leser ein. Geisenhainer kommt zu dem Schluss, dass für die Vernetzungen unter den WissenschaftlerInnen die Stellung zum NS-Regime eine geringere Rolle spielte als der gemeinsame kulturhistorische Ansatz.
GERTRUD BODEN (Frankfurt/M.) argumentierte am Fallbeispiel von Oswin Köhlers Arbeiten über die Khwe in Namibia, dass die Aufarbeitung der Fachgeschichte auch für die Angehörigen der untersuchten Gemeinschaften geschehen muss. Der Fokus liegt dabei auf der Wirksamkeit der konkreten Arbeitsweise oder Praxis für das Forschungsergebnis. Hauptwerk des Afrikanisten Köhler ist seine bisher unvollendet gebliebene Enzyklopädie Die Welt der Kxoé-Buschleute. Eine Selbstdarstellung in ihrer eigenen Sprache. Mit Übersetzung, Anmerkungen und Kommentaren von Oswin Köhler, ein insofern einzigartiges Werk, als Köhler alle Bereiche der untersuchten Kultur in originalsprachigen Texten darzustellen suchte. Berechtigterweise sehen die Khwe das Material als Dokumentation ihres kulturellen Erbes an. Sie verbinden auch die Vorstellung damit, dass sie angesichts des sozialen und kulturellen Wandels, den sie selbst wahrnehmen, hier ihre originale Sprache und Kultur (wieder-)finden können. Boden, die mit der Herausgabe der bisher unveröffentlichten Teile betraut ist, konnte durch Untersuchungen vor Ort, nicht zuletzt durch Gespräche mit überlebenden Zeitzeugen, und natürlich durch Untersuchung des hinterlassenen schriftlichen Materials, Köhlers Arbeitsweise rekonstruieren, die nicht dem Ideal der teilnehmenden Beobachtung entsprach, sondern großteils „am Schreibtisch“ geschah und vor allem in der Befragung alter Männer aus einem eng umgrenzten Gebiet bestand. Die korrekte Aussprache der Vokabel bezog Köhler von einer einzigen zum „Sprecher“ ernannten Person. Köhler hatte auch in den letzten Jahren künstlich eine „natürliche Umgebung“ für die von ihm so bezeichneten „letzten freien Jäger“ geschaffen und seine zahlreiche Besuche nie in der Regenzeit durchgeführt. Auch musste er, um sich in dem militärisch-politisch heiklen Gebiet aufhalten zu können, gute Beziehungen zum Apartheid-Regime aufrechterhalten. Aus all dem ergibt sich für Boden die Verpflichtung, die Khwe über die logistische, politische und ideengeschichtliche Bedingtheit der sie betreffenden Forschungsergebnisse aufzuklären, und zwar dialogisch, partizipativ und egalitär. Für die Zukunft stellt sich die Frage: Wie sollen sich Angehörige der beforschten Gemeinschaften an der Aufarbeitung der Fachgeschichte beteiligen, wie kann ihre Mitautorschaft praktisch gewährleistet werden? Die Bedingtheit der eigenen Praxis dabei offenzulegen wird dazu notwendig, wenn auch nicht hinreichend sein.
HAN VERMEULEN (Halle/Saale) betonte in seinem Beitrag über Geschichte der Ethnologie im 18. und 19. für das 21. Jahrhundert, dass es sich dabei um die Geschichte einer Reihe von Disziplinen handelt, um history of anthropology. Er fordert eine historizistische Methode, die Anachronismen vermeidet, historisch-kritisch und vergleichend vorgeht, die Ansichten der früheren Wissenschaftler in ihrer Zeit kontextualisiert, also emisch vorgeht, und Forschungsprogramme, also Paradigmen in Betracht zieht. Daher: historicist-emic-paradigmatic method. Die Anfänge der Ethnologie ortet Vermeulen nicht bei den Sozialevolutionisten wie Bastian, Tylor oder Morgan, sondern in der deutsch-russischen Frühaufklärung im 18. Jahrhundert. Es waren deutschsprachige Historiker wie Gerhard Friedrich Müller (1705-83), August Ludwig Schlözer (1735-1809), und Adam Franz Kollár (1718-83) die eine Wissenschaft der Völker und Nationen prägten und als Völker-Beschreibung (1740), ethnographia (1767-71), Völkerkunde (1771-75) und ethnologia (1781-83) bezeichneten. Gerhard Friedrich Müller, von Peter dem Großen an die russische Akademie der Wissenschaften berufen, bereiste mit der 2. Kamtschatka-Expedition 10 Jahre lang Sibirien, um Daten über Völker, Kulturen und Geographie zu beschaffen. Er beschrieb Religionen, Rituale und Kleidung der ethnische Gruppen Sibiriens. Sein Forschungsprogramm war: Beschreibungen zu sammeln mit dem Ziel, sie vergleichen zu können. Das sprachvergleichende Programm von Leibniz gab seinem Programm die Struktur: Man kann Völker nicht aufgrund ihrer Sitten klassifizieren, sondern nur aufgrund ihrer Sprache. Müllers Schriften wurden auf Deutsch allerdings erst 2003 bis 2010 publiziert. August Ludwig Schlözer war Professor für Geschichte an der Universität Göttingen. 1761 bis 1762 wohnte er sechs Monate bei Müller. Er führte 1771 den Begriff Völkerkunde ein, entwarf eine ethnographische Methode der Geschichtsschreibung und wollte ein nach Linnäischer Methode verfertigtes Systema Populorm in Classes entwickeln. Adam Frantisek Kollár, ein Historiker in Wien, kannte Schlözers Werke und übernahm seine Ideen. Er benutze 1781 als erster den Begriff ethnologia und definierte ihn als notitia gentium populorumque, bzw. Erforschung der Ursprünge, Sprachen, Sitten und Institutionen verschiedener Nationen. Ethnographie und Ethnologie entwickelten sich in multikulturellen Großreichen – dem Russischen, dem Deutschen (damals noch Heiligen Römischen) und dem Habsburgerreich – aus der Geschichtswissenschaft, der historischen Linguistik und der Geographie, neben und parallel zur Anthropologie, die ihre Wurzeln in den Naturwissenschaften und der Philosophie hat. Erst ab 1879 wurden die vier Felder physische Anthropologie, Ethnologie, Linguistik und Archäologie in den USA zu einer gemeinsamen Disziplin zusammengefasst.