Brief einer Witwe

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Aus: Hoppe, Bert (Hsg,), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 : Band 8 : Sowjetunion mit annektierten Gebieten II: 552.

Ich will der Frau, die diesen Brief 1942 geschrieben hat, gar nichts unterstellen und den Brief so nehmen, wie er ist. Das Bestürzende ist, mit welcher Selbstverständlichkeit sie davon ausgeht, dass die Hilfe für ihre Notlage, auf die sie Anspruch erhebt, doch aus dem zurückgebliebenen Besitz „nach dem Juden“ geleistet werden solle.

Das jiddische Volkslied: Selbstbehauptung, Selbstverständigung und Widerstand

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Sommerakademie „Volkskultur als Dialog“
21. – 24. August 2019, Gmunden am Traunsee

Anmerkung: Jiddisch wird eigentlich mit hebräischen Lettern geschrieben. Die hier zitierten Werke verwenden Transliterationen in lateinischer Schrift, allerdings nicht einheitlich. Um die Leser und Leserinnen dieser kleinen Arbeit nicht unnötig zu verwirren, habe ich versucht, für alle Texte einheitlich die Regeln des YIVO Institute for Jewish Research anzuwenden, die z. B. hier zu finden sind: http://www.yiddishwit.com/transliteration.html. Die Zitate dürfen also nicht als buchstabengetreue Zitate angesehen werden, wie sie in wissenschaftlichen Werken erfordert werden.

1. Vayl ikh bin a yidele

(http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/lodz/vayl-ikh-bin-a-yidale/ )

Vayl ikh bin a yidele
Zing ikh mir dos lidele
Vayl ikh bin a yid
Zing ikh mir dos lid.

2. Einleitung

Wer nur ein wenig über jüdische Geschichte gehört hat, fragt sich oft:

Wie konnten die Juden überhaupt 2000 Jahre europäischer Geschichte überstehen?

Die Antwort ist einfach: Weil man sie gebraucht hat! Als Handwerker, als Kleinhändler, die die Waren aus den Städten zu den Bauern brachten, als Fernhändler, die Güter aus dem Orient in den Westen brachten, als Ärzte, als schreibkundige Gutsverwalter und Steuereinnehmer, als Geldverleiher und Bankiers, die den Fürsten das Geld für ihre Hofhaltung und ihre Kriege besorgten, als Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler.

Aber wenn Juden so nützlich für die Gesellschaft waren, warum hat man sie dann als Fremde verfolgt, warum hat man ihnen nicht die gleichen Rechte zugestanden wie anderen Menschen?

Und wieder ist die Antwort einfach: Weil sie als Fremde, als nur Geduldete, noch größeren Nutzen brachten. Weil man sie als Fremde leichter wieder loswerden konnte, wenn man sie nicht mehr brauchte, oder wenn man ihre Konkurrenz fürchtete, oder wenn man ihnen Geld schuldig war und es nicht zurückzahlen wollte, oder wenn man sich ihr Vermögen, ihre Häuser und Grundstücke aneignen wollte. Weil man von ihnen als Fremde dafür, dass man sie duldete, höhere Steuern verlangen konnte. Weil man ihnen als Fremde die Schuld an allem möglichen Unglück in die Schuhe schieben konnte, an der Pest, an verlorenen Kriegen, an Teuerung und Wirtschaftskrisen.

Die Geschichte der Juden in Europa ist nun keineswegs eine Geschichte ununterbrochener Verfolgung. Juden wurden von den christlichen Kirchen mal angefeindet, mal umworben, von Fürsten angesiedelt und wieder vertrieben, auf hohe Posten gestellt und unter falschen Beschuldigungen wieder abgesetzt. Dementsprechend war die Beziehung des „einfachen Volks“ zu den Juden zeitweise gutnachbarlich, zeitweise von Misstrauen und Hass geprägt.

Ein doppelter Druck lastete aber immer auf Europas Juden: Ausgrenzung einerseits und Assimilationsdruck andererseits – die natürlich zwei Seiten derselben Medaille sind. Um diesen doppelten Druck auszuhalten, um die Identität zu bewahren und in dieser Identität auch leben zu können, bedurfte es starker kultureller Werte. Der erste war natürlich die Religion, die mit ihren Ritualen und Reinheitsgeboten ins Leben frommer Juden bis in jede Minute des Alltags eingewebt ist. Der zweite war die Jiddische Sprache, die aus dem Judenteutsch des Mittelalters hervorgegangen und im 15. Jahrhundert mit den aus dem Rheinland vertriebenen Juden nach Osteuropa gekommen war. Die Sprache des Gebets und der Gelehrsamkeit war Hebräisch (und Aramäisch). „loschn kodesch“, die Geschäftssprache war die jeweilige Landessprache. Jiddisch war „mame loschn“die Sprache des Alltags, die Sprache der Familie, des Umgangs mit den Kindern, des Freundeskreises, der Geselligkeit. Jiddisch war die Sprache der Frauen, die nur selten Hebräisch lernten. Und Jiddisch war eben die Sprache der Volkskultur, der Sprichwörter, der Märchen und Sagen und der Volkslieder, später aber auch die Sprache der politischen Auseinandersetzung und eines säkulären jüdischen Nationalbewusstseins, das sich vom Zionismus, der sich am Hebräischen orientierte, abgrenzte.

Jiddische bzw. judenteutsche Volksepen und Spielmannslieder sind seit dem 14. Jahrhundert überliefert, doch der größte Teil des heute bekannten Liedgutes stammt aus dem 18.,19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Im jiddischen Volkslied spiegeln sich alle Aspekte jüdischen Lebens in Osteuropa wieder. Soziale Probleme werden sehr oft thematisiert, und zwar auch die Spannungen innerhalb der jüdischen Community.

3. Wiegenlied

Schon im Wiegenlied wird dem Kind sein Lebenslauf vorhergesagt, der Junge soll ein geachteter Talmudgelehrter werden: In die Kleinkinderschule wirst du laufen, mit der Zeit dir einen guten Ruf verschaffen, mit achtzehn wirst du religiöse Fragen lösen und in der Synagoge predigen.

1. Loyfn vestu in kheder

(Rubin 1979: 32)

Loyfn vestu in kheder,
Lernen vestu k‘seder…
Gute b‘sures und gute mayles,
Tsu akhtsn yor vestu paskenen shayles;
Shayles vestu paskenen,
Droshes vestu darshenen.

Und das Mädchen soll natürlich heiraten, wenn möglich einen geachteten Talmudgelehrten. Doch Widersprüche werden schon hier sichtbar:

2. Tsu tsvelf yor vel ikh dikh khasene makhn

(Rubin 1979: 34)

Tsu tsvelf yor vel ikh dikh khasene makhn
kh‘vel dir neyen kleyder un ale gute zachn.
Der tate, der apikoyres lakht derfun gor,
khasene, zogt er, nor tsu achtsn yor.

Der aufgeklärte Vater – der Ketzer – will das Mädchen erst mit 18 Jahren heiraten lassen, die fromme Mutter sie schon mit 12 verheiraten.

Wenn das Kind älter sein wird, wird es verstehen: Die teuersten Paläste, die schönsten Häuser macht der arme Mann, doch wohnen wird darin nur der reiche Mann.

3. Shlof, mayn Kind, Shlof Keseyder

(Motek/Slobin 2007: 37).

https://exhibitions.yivo.org/items/show/5500

Shlof, mayn kind, shlof keseyder,
zingen vel ikh dir a lid.
Az du mayn kind, vest elter vern,
vestu visn an untershid.

Die tayerste palatsen, di shenste hayzer,
dos alts makht der oreman.
Un ver, mayn kind, tut in zey voynen?
Gor nisht er, nor der raykher man.

Auch kleine Mädchen werden verpflichtet, Kinder zu hüten, wenn die Mutter zum Beispiel auf den Markt verdienen gehen muss:

4. Vigndig a fremd kind

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5470 )

(https://archive.org/details/78_1-bay-dem-shtetl-2-vigndig-a-fremd-kind-3-basseraber-kinder-tants_ruth-rubin-r_gbia0059111b/1.+Bay+Dem+Shtetl+2.+Vigndig+A+Fremd+Kind+3.++-+Ruth+Rubin.flac )

(Silverman 1983: 51)

Andere meydelekh tanzen un shpringen
und ikh muzn‘s kind vign un zingen.
Ay lulu,sha, sha, sha,
die mame iz gegangen in mark arayn.
Aylulu, shlof mayn kind,
di mameshi vet kumen gikh un geshvind.

Andere meydelekh tsukerlekh nashn
un ikh muzn‘s kind vindelekh vashn.
Ay lulu …

Eine Kuriosität ist ein Wiegenlied, das dem Kind ein sorgloses Leben verspricht, weil Stalin das Staatsruder hält. Es stammt nicht vielleicht aus irgendeinem von oben verordneten Liederbuch, sondern ist von dem Volksliedforscher Moishe Beregowski so aufgezeichnet worden:

5. Der ruder fun undzer land

(Grözinger/Hudak 2008: 371)

Der ruder fun undzer land
halt Shtalin aleyn in hand.
Nor er firt undz tsu greyse zign,
shlof mayn tayer fargnign!

4. Kinderreime und Spiele

Im Auszählreim wissen die Kinder schon: Unsere Polen sind gegen die Juden, oder: Auf dem Berg im grünen Gras, stehen ein paar Deutsche mit den langen Peitschen.

1. Eyne kleyene vayse taybl

(Rubin 1979: 47)

Eyne kleyne vayse taybl
firte mikh in engeland.
Engeland iz tsugeshlosn
un di shlisl iz opgebrokhn.
Eyns, tsvey dray, poyln iz farbay.
Russ iz gelofn mit ale harmatn,
poyln iz geblibn on soldatn.

2. Oy undzere poyln zenen antgegn Yidn

(Rubin 1979: 47)

Oy undzere poyln zenen antgegn Yidn!
Oy, undzere felder zenen fargosn mit blut.
Heybt men on arumtsuyogn,
heybt men on arumtsuplogn,
dali oyf die ferd, dali tsum gever!
Eyns, tsvey, dray, makhn mir pleyte aray!

Das folgende ist ein Reim, mit dem sich die Buben hebräische Vokabel gemerkt haben: Ov heißr Vater, keyder heißt Tartar, Tartar heißt keyder usw.

3. Ov – a foter, keyder – a toter

(Rubin 1979: 54)

Ov – a foter, keyder – a toter,
toter – keyder, b‘godim – kleyder,
kleyder – b‘godim, khut iz a fodim,
fodim iz khut, lekhem iz broyt,
broyt iz lekhem, trakht iz rekhem,
rekhem iz trakht, shmoyne iz akht
[…]

5. Liebe und Heirat

Das Liebeslied ist oft ein Protest gegen den Brauch der arrangierten Heirat: Ach Mutter, teure, lösch mein Feuer, und gib mir den, den ich will. Und der Heiratsvermittler wird angeklagt: Ach, wir arme Mädchen, was nützt uns eine große Mitgift, wenn man uns als Mann ein Pferd herausputzt.

1. Oy. mir orime meydelekh

(Rubin 1979: 80)

Oy. mir orime meydelekh,
vos toyg undz a sach nadn,
Az men putst undz oys a ferd far a man.

Undzere eltern tuen shidukhim,
zey tuen undz gor nit fregn,
darum farbrengen mir zeyer shlekht dem leben.

Und wenn ein Mädchen seine Liebe nicht ausleben kann, kann sie daran sterben:

2. Ale vaserlekh flisn avek

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5008 )

Ale vaserlekh flisn avek,
di gribelekh blaybn leydig.
Nito aza mentsh oyf gor der velt
vos ken farstehyn mqyn veytig.

Un az a meydele shpilt a libe,
shpiln zikh ir ale farbn.
Un az a meydele firt ir libe nit oys,
ken zi kholile nokh shtarbn.

Die Liebe sucht oft den Ausweg in der Auswanderung: In Amerika nimmt ein Bursch ein Mädchen auch ohne Geld: Wir wollen wegfahren in ein fremdes Land, und dort den Heiratsbaldachin aufstellen. Und die Mutter sagt darauf: Ob im Guten oder im Schlechten, ihr seid nicht mehr meine Kinder.

3. Mir veln avekforn in a fremder medine

(Motek/Slobin 2007: 21)

Mir veln avekfurn in a fremder medine
in dortn a khipele oyfshteln.
In say se vet dokh sayn git, in say se vet dokh sayn shlekht,
ba mir far kinder zent ir shoyn oysgemerkt!

Und der junge Mann, der die große Reise plant, fragt seine Liebste, ob sie denn bereit ist, die Beschwernisse auf sich zu nehmen:

4. Zog mir, du sheyn meydele

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/2028 )

Zog mir, du sheyn meydele
her nor, du fayn meydele:
Vos vestu ton in aza vaytn veyg?

Ikh vel geyn in ale gasn
un vel rufn: „vesh tsu vashn“,
abi mit dir tsuzamen zayn.

Da die Kinder oft sehr früh verheiratet wurden, konnten sie oft keinen eigenen Hausstand gründen. Die junge Frau hat es im Haushalt der Schwiegermutter oft nicht leicht gehabt. Hier beklagt sie sich bei ihrer eigenen Mutter:

5. Es iz gefloygn di pildene pave

(Motek/Slobin 2007: 45)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/2084)

Vi es iz biter, mayn libe mutter,
a vaser on a fish,
azoy iz biter, mayn libe mutter
ba a fremdn tish.

Vi es iz biter, mayn libe mutter,
a feygele on a nest,
azoy iz biter, mayn libe mutter
shver un shvigers kest.

6. Religion und Feiern

Ein besonderes Genre ist das Sabbat-Lied: Der Tag des Ausruhens, der Freude, des guten Essens, der Geselligkeit wird gepriesen. Sich am Sabbath zu freuen ist göttliches Gebot.

1. Brider zog

(https://yiddishsong.wordpress.com/2011/05/06/brider-zog-by-sholem-berenshteyn/ )

Brider zog, vi heyst der tog,
ven mir ale zenen freylekh?
Der yidele, der kleyner, der kusherer, der sheyner
Iz dokh dan a meylekh.

Der kleine Jude, der koschere, der fromme, am Schabbes ist er ein König.

Nach der Heimkehr vom Sabbathgottesdienst am Freitag Abend hat man ein Lied für die Friedensengel gesungen:

2. Shalom Alaicheim

(http://old.piyut.org.il/tradition/english/3063.html )

Shalom aleichem
Mal’achei hasharet
Mal’achei elyon,
Mimelech
Mal’achei ham’lachim
Hakadosh baruch hu. 

Und ganz sicher würde der Messias, der Sohn Davids, dieses Jahr endlich erscheinen:

3. Shnirele, perele, gildene fon

Shnirele, perele, gilderne fon,
Moshiakh ben dovid zitst oybn-on
[in gold un zilber ongeton.]
Halt er a bekher in der rekhter hant,
makht er a brokhe iber gor dem land.
Omen v’omen, dos iz vor,
Moshiakh vet kumen hayntigs yor.

Vet er kumen tsu raytn,
veln mir hobn gute tsaytn;
vet er kumen tsu forn,
veln mir hobn gute yorn;
Vet er kumen er tsu geyn,
veln ale maysim oyfshten.

Und wenn es die ganze Woche nur Erdäpfel gibt, dann, oh Freude, am Schabbes gibt es einen Erdäpfel-Auflauf!

4. Bulbes

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5412 )

Zuntig: bulbes,
montig: bulbes,
dinshtig un mitwokh bulbes,
dunershtig und freytig bulbes.
Shabes in a novine: a bulbekigele,
zuntig vayter bulbes.

Aber die Frömmigkeit der ewigen Talmudstudenten lastete schwer auf den Frauen: Die Frau muss ins Bethaus laufen, ihre Gebete lesen, Amulette schreiben, den Buben die Schläfenlocken eindrehen und noch mehr:

5. Ikh loyf in bes-medresh

(Rubin 1979: 151)

Ikh loyf in bes-medresh,
ikh leyen oys di sedres.
Ikh shrayb oys kameyes,
Ikh grayzl oys die peyes.
In mark darf men loyfn,
holts darf men koyfn,
broyt darf ikh bakn,
holts darf ikh hakn,
di kinder darf ikh nyantshen,
eyne leygn shlofn,
die andere aroysfirn,
die dritte bashmirn,
dos iz nokh nit gor:
a kind ale yor!

7. Tanz- und Trinklieder

Auch Trinklieder gibt es die Menge. Der Rebbe hat uns geheißen fröhlich zu sein, Schnaps zu trinken und nicht Wein. :

1. Der rebe hot gehaysn freylakh zayn

Der rebe hot gehaysn freylakh zayn,
trinkn bronfn, nisht kayn vayn.

Getanzt wurde bei Hochzeiten, aber zu Zeiten auch jede Woche im Tanzhaus. In einem Tanzlied heißt es: Mein Sieb ist mir zerbrochen, meine Schuhe sind zerrissen, tanz‘ ich eben in den bloßen Socken. Tanz, tanz mir gegenüber und ich dir gegenüber, du wirst den Schwiegersoh nehmen und ich die Schwiegertochter.

2. Hot sikh mir di zip tsezipt

(https://archive.org/details/78_1-bay-dem-shtetl-2-vigndig-a-fremd-kind-3-basseraber-kinder-tants_ruth-rubin-r_gbia0059111b/1.+Bay+Dem+Shtetl+2.+Vigndig+A+Fremd+Kind+3.++-+Ruth+Rubin.flac )

(https://folkways-media.si.edu/liner_notes/folkways/FW08720.pdf )

(Rubin 1979: 193)

Hot sikh mir di zip tsezipt un hot sikh mir tsebrokhn,
hot sikh mir di shikh tsurisn, tants fun hoyle zokn.

Tsebrohkn iz der lokshntop, farbrent der nahid,
tantsn di makhteynistes, di kale in der mit.

Im 19. Jahrhundert hat man durchaus auch Paartänze getanzt:

3. Eyns, tsvey, dray

(Rubin 1979: 189)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/4836 )

Eyns, tsvey, dray, fir, finf, zeks, zibn,
a sheyn meydele hob ikh zikh oysgeklibn.
Tsi di vilst mikh yo, tsi di vilst mikh neyn,
a polke meygn mir beyde geyn.

8. Historische Balladen

Historische Balladen berichten von politischen Ereignissen, Pogromen, Kriegen oder Unglücksfällen.

1. Ver fun undz yidishe kinder

(Rubin 1979: 200)

Ver fun undz yidishe kinder
veyst nit fun die kosaken milkhomes?
Ver fun undz ayeder bazunder
veyst nit fun die haydamaken nekomes?

Die Hajdamakenaufstände des 18. Jahrhunderts sind typisch für die Geschichte der Juden. Die ukrainischen Bauern litten schwer unter der Ausbeutung durch den polnischen Adel, besonders, als die Polen die Leibeigenschaft einführten. Drei große Aufstände gegen die Fremdherrschaft fanden statt. Die Juden waren die Mittelschicht zwischen dem Adel und den Leibeigenen, sie waren Händler und Schankwirte, aber auch die Verwalter und Steuereintreiber der polnischen Gutsbesitzer waren oft Juden. Und so führten die Aufstände gegen die polnische Fremdherschaft auch zu fürchterlichen Pogromen gegen Juden.

Die Dreyfus-Affäre 1894 wurde besungen (Motek/Slobin 2007: 229), auch der Untergang der Titanic 1912 (Motek/Slobin 2007: 231).

Neueren Datums ist eine Moritat aus Amerika über den Tod von Kaiser Franz Joseph:

2. Franz Josefs toyt

http://www.yiddishpennysongs.com/2016/04/franz-josefs-toyt-death-of-franz-joseph.html

Der alte Franz Joseph hat zu Lebzeiten keinen Unterschied gemacht. Er hat Freiheit jedem gegeben, dem Christen wie dem Juden. Er hat Juden niemals vertrieben, hat sie vor Not und Plage beschützt, darum soll der Jude seines Todes gedenken und um ihn trauern. Interessant ist auch die zweite Strophe, in der Österreich verteidigt und nur Russland die Schuld am Krieg gegeben wird.

Der alter Frants Yoysef baym lebn
Gemakht hot er keyn untershid
Er hot frayhayt dort yedn gegebn
Dem krist azoy oykh gut dem yid
Er hot yidn keyn mol nit getribn
Bashitst zey in noyt un fun plog
Zayn toyt darf baym yid zayn farshribn
Un troyrn zol er dem tog!

In Estraykh tut blut zikh yetst gisn
Frants Yoysef hot dos nit gevolt
Der emes tut yeder yetst visn
Az Rusenland hot nor di shuld
Frants Yoysef geton hot regirn
Dokh zayn folk geshits yedn trit
Oysgehit zikh milkhomes tsu firn
Nit gevolt hot er fargisn blut!

Geschrieben hat sie der Bäcker Morris Rund, ein gebürtiger Österreicher, der nach New York ausgewandert ist. Er hat seine Lieder als broadsheets herausgebracht. Als Melodie hat er, wie meistens, eine gängige Schlagermelodie benutzt.

9. Rekrutenelend

Zur zaristischen Armee eingezogen zu werden, war ein großes Unglück. Der Dienst dauerte zu Zeiten 20 Jahre und die Juden sahen keine Veranlassung, für das Zarenreich in den Krieg zu ziehen. Die Rekrutierung übertrug die Regierung den jüdischen Gemeindevorstehern, die den Behörden taugliche Rekruten melden mussten, und dafür bittere Vorwürfe zu hören bekamen: Kleine Buben reißt man schon aus der Schule und zieht ihnen Soldatenkleider an. Unsere Honoratioren, unsere Rabbiner helfen, sie auszuliefern.

1. Kleyne oyfelekh rayst men fun kheyder

(Rubin 1979: 211)

Kleyne oyfelekh rayst men fun kheyder,
men tu zey on y‘vonishe kleyder
undzere parneysim, undzere rabonim
helfn nokh optsugebn zey far y‘vonim.

Und ein junger Mann klagt:

2. Yidn, ikh veys ir zayt gekumen nit nokh veyts un nit nokh korn

(Rubin 1979: 211)

Yidn, ikh veys ir zayt gekumen nit nokh veyts un nit nokh korn,
ir zayt dokh gekumen nokh mayne yunge yorn!

‘Kh hob nit kayn gelt fun aykh zikh oystsukoyfn,
di veygn‘t ir mir farshtelt, ikh hob nit vu tsu antloyfn.

Und die Mädchen warnen einander:

3. Velkhes meydl ‘s nemt a zelner

(Rubin 1979: 212)

Velkhes meydl ‘s nemt a zelner
iz nit vert keyn prute.
Geyn, geyn kayn sevastopol
vi an oks tsu der sh‘khite.

Eine bekannte Ballade erzählt von einem toten Soldaten, der einen Vogel, der sich auf seinem Grab niedergelassen hat, mit Grüßen zu seiner Mutter schickt:

4. Oyf die felder

(Rubin 1979: 226)

https://exhibitions.yivo.org/items/show/5429

Oy, du foygl, fli geshvind
un zog der mamen ikh bin gezint.

Fun dem toyt zolstu ir nit zogn
vayl zi vet nebikh veynen un klogn.

Der Zar wird spöttisch „Fonye“ genannt, was sich von Iwan – Wanja ableitet. Meine Mutter hat mich verwöhnt mir Milch und mit Butter, jetzt muss ich dem Iwan dienen, finster ist mir und bitter. Der Rabbi hat mich in den heiligen Schriften unterrichtet, und jetzt muss ich dem Iwan für Brot und Buchweizengrütze dienen. Der Iwan ist ein Dieb!

5. Fonye ganef

(Silverman 1983: 118)

Mayn muter hat mikh gehodevet
mit milkh un mit buter,
itzt mus ikh fonyen dinen,
fintster iz mir un biter.

Der rebe hot mikh gelernt
khumesh mit rashe.
Itzt mus ikh fonyen dinen
far barsht un far kashe!

Fonye, fonye ganef
Fonye, fonye ganef!
Fonye, fonye ganef!
Fonye blaybt a ganef!

Gespottet wird über den Zaren: Der tut nicht Zucker in seinen Tee, ihm wird der Tee in einen Zuckerhut gegossen!

6. Vi azoy trinkt der keyser tey?

(Silverman 1983: 86)

Rabosay, rabosay, khakhomim on a breg.
‘kh vel aykh fregn, ‘kh vel aykh fregn!
Freg she, freg she, freg!
Entfert ale oyf mayn shayle:
vi azoy trinkt der keyser te?
Nu: Me nemt e hitele tsuker
un me makht in dem a lekhele
un me gist arayn heyse vaser
un me misht un me misht un me misht:
Ot azoy, ot azoy, ot azoy trinkt der keyzer te!

10. Chassidismus

Im 18. Jahrhundert entstand der Chassidismus, eine religiöse Bewegung, die nicht so viel Wert auf das Studium der Schriften und die akribische Einhaltung der 613 Gebote legte, sondern die die Nähe zu Gott in guten Werken, in frommer Versenkung, im Gebet und im fröhlichen Beisammensein suchte. Das Wort „nigun“ heißt einfach „Melodie“, bezeichnet aber auch die typisch chassidischen Melodien ohne Worte. Ein Lied mit Text ist irgendwann zu Ende, eine Melodie aber kann immer weiter und weiter gesponnen werden. Die Nigunim wurden üblicherweise gemeinschaftlich, aber einstimmig und ohne Instrumentalbegleitung gesungen.

1. Yabi bay

(Aus dem Gedächtnis)

Der Mystizismus der Chassidim entwickelte sich aber bald zum Wunderglauben, die Verehrung richtete sich weniger auf Gott als auf die wundertätigen Rabbiner. Die wurden reich hielten Hof und gründeten Dynastien. Gegen den Mystizismus der Chassidim wandten sich einerseits die Orthodoxen, die Misnagdim, die das Studium der heiligen Schriften und die Einhaltung der Gebote in den Vordergrund stellten, andererseits die Maskilim, die Anhänger der Haskalah, der jüdischen Aufklärung. Diesem Gegensatz entstammen Spottlieder über die Chassidim und ihren Glauben an wundertätige Rabbis.

Wolf Ehrenkranz aus Zbarsh, genannt Velvl Zbarsher, war ein Volkssänger und Wirtshauspoet und Anhänger der Haskala. Er hat einem Chassid das folgende in den Mund gelegt: Komm her, du „Philosoph“, mit deinem kurzen Verstand, setz dich da zum Rabbi, da wirst du was Gescheites lernen: Ein Dampfschiff hast du dir ausgedacht, und bist stolz darauf, aber der Rabbi breitet sein Taschentuch aus und fährt damit übers Meer:

2. Kum aher du filosof

(Silverman 1983: 93)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/2776 )

Kum aher du filosof
mit dayn kortsn maykhl
un sets zikh tsu tsum rebns tish,
vestu lernen seychl.
A dampfshif hostu oysgeklert
un nemt sikh mit dem iber:
Der rebe shprayt zayn tikhl oys
un shpant dem yam ariber.

Velvl Zbarsher hat auch das Lied „Der Bankrott“ geschrieben. Da kommen die Chasidim zum Herrgott, rühmen sich ihrer Frömmigkeit und verlangen Belohnung. Am Schluss muss der Herrgott sich bankrott erklären.

Im folgenden Spottlied ist der Rabbi am Freitag Nachmittag in der Kutsche unterwegs. Bald beginnt der Schabbes, wo man nicht arbeiten und auch nicht fahren darf. Da vollbringt der Rabbi ein Wunder: Links ist Schabbes, rechts ist Schabbes, und der Rabbi fährt dazwischen.

3. Ikh vel zingen do far aykh

(Motek/Slobin 2007: 225)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/2763 )

Sìz erev shabes, oy vey iz mir,
me vet shoyn bald nisht torn.
Un der rebe tsu dem shtetl
hot nokh vayt tsu forn.
Vos tut der rebe? Nemt er bald,
bashvert ferd un shlitn,
iz shabes do un shabes dort
un der rebe fort in mitn.

Tshiribim…

11. Armut und schwere Arbeit

Armut und schwere Arbeit waren oft Thema jiddischer Volkslieder. Wenn eine Mühle mahlt, mahlt sie beständig, aber sie wird auch einmal abgestellt. Doch schaut euch nur den kleinen Bäckerjungen an, ob er überhaupt noch einen Tropfen Blut in sich hat! Und der Bäcker und die Bäckerin, sie kommen in die Bäckerei, nach ihrem Stand und ihrem Reichtum: Sie geht angetan mit brillantenen Ohrringen und er mit einer goldenen Uhr.

1. Lid fun beker yingl

(https://folkways-media.si.edu/liner_notes/folkways/FW08720.pdf )

(Voicees 288)

Indroysn geyt a drobinker regn,
di volkenes zey hobn zikh farshrayt.
Tsayt ikh hob nor di bekeray derkont
azoy hot zikh mir der kop fardreyt.

Oy, a mil, az zi molt, molt zi k‘seyder,
ir opshtel hot oykh a minut.
Tut nor a kuk oyf dem kleynstn beker-yingl,
tsi farmog er den a tropn blut.

Un der beker mit der bekern zey kumen in di bekeray
loyt zeyer raykhtum un loyt zeyer shteyger:
zi get ongeton a por brlyantene oyringen
un er in a goldenem zeyger.

Und der Kutscher singt: Ich hab eine Kutsche mit schwarzem Leder bedeckt, zwei Pferde wie Löwen und vier Räder. Und die Räder drehen sich nicht, und die Pferde gehen nicht, und mein Weib schilt, ich hätte gern ein Glaserl Schnaps. Wenn ich einen Stein sehe, setz ich mich drauf und weine. Ich wäre gern ein Kaufmann, aber ich hab keine Ware, ich wär gern ein Lehrer, aber ich weiß nichts von der Tora, ich wär gern ein Schuster, aber ich hab keine Ahle, und ich wär gern ein Kantor, aber ich hab keine Stimme.

2. Hob ikh mir a shpan

(https://folkways-media.si.edu/liner_notes/folkways/FW08720.pdf )

(Motek/Slobin 2007: 138)

Hob ikh mir a shpan
badekt mit shvartsn leder,
dray lebnferd und fir reder:
Und di reder dreyen nit,
un di ferd geyen nit
un die vayb zi shilt zikh,
a glezele bronfn vilt zikh,
ze ikh mir a shtayn,
zits ikh mir un vayn.

Im 19. Jahrhundert traten an die Stelle von Handwerkerliedern immer mehr Lieder über die Arbeit in der Industrie. Hier singt eine Näherin: Sobald ich mich schlafen lege, muss ich schon wieder aufstehen, und mit meinen kranken Beinen zur Arbeit gehen. Ich komm spät zur Arbeit, der Weg ist doch weit, und schon zieht man mir einen halben Tag vom Lohn ab! Die Nadeln zerbrechen, fünfzehn in der Minute, und die Finger sind blutig zerstochen. Ich hab nie genug zu essen, und wenn ich um Geld bitte, sagt man mir, ich soll‘s vergessen.

3. Eyder ikh leg mikh shlofn

(Silverman 1983: 163)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5415 )

Eyder ikh leg mikh shlofn,
darf ikh shoyn oyfsteyn,
mit mayne kranke beyner
tsu der orbayt geyn.
Tsu got vel ikh veynen
mit a groys geveyn,
vos ikh bin geboyrn
a neytorn tsu zayn.

Aber nicht alle haben sich damit begnügt, zu Gott zu weinen. Das folgende Lied hat als witziges Handwerker-Spottlied begonnen, und später eine Funktion im Kampf um den Zehnstundentag bekommen: Wie näht ein Schneider? Er näht und näht die ganze Woche, bekommt einen Gulden mit einem Loch. Vor einem Jahr haben wir von acht bis acht gearbeitet, aber dank dem Streik müssen wir das nicht mehr.

4. Ot azoy neyt a shnayder

(https://folkways-media.si.edu/liner_notes/folkways/FW08720.pdf )

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5418 )

Ot aozy neyt a shnayder,
ot azoy neyt er dokh:
Er neyt un neyt a gantse vokh,
fardint a gildn mit a lokh.

Far a yor, nit haynt gedakht
hobn mir gearbayt akht bis akht.
Ober di shtruktsiye hot gemakht,
mir orbetn shoyn nikht mer akht bis akht.

12. Auswanderung

Die 1880er Jahre sahen in Russland eine Welle von Pogromen. In den 12 Jahren von 1881 bis 1893 verließen über eine Viertelmillion Männer, Frauen und Kinder Russland Richtung Amerika. Man hatte zwar gehört, dass es dort Sklaverei gab, doch das schien immer noch besser als in Russland zu verhungern.

1. Tsu fis kayn amerika tu-en mir loyfn

(Rubin 1979: 345)

Tsu fis kayn amerika tu-en mir loyfn
dort a shtikl broyt tsi fardinen.
Fir shklaven veln mir zikh dort farkoyfn,
abi an opru tsu gefinen.

2. Fun keyne glikn veys ikh nit

(Rubin 1979: 345)

Fun keyne glikn veys ikh nit
in rusland iz mir zeyer shlekht.
Kayn amerike miz ikh opforn,
farkoyfn vel ikh zikh far a knekht.

Amerika, columbuses medine, war der Traum von Millionen Juden: Dort konnte man jedem Beruf nachgehen, jeden Glauben leben. Die sozialen Schichten waren durchlässig, junge Menschen konnten heiraten ohne, dass sich die Eltern einmischten, wahre Liebe musste kein Traum bleiben. Oft fuhr ein junger Mann alleine in der Hoffnung, seine Braut später nachholen zu können.

3. Tsvey-dray yor vil ikh oyf dir vartn

(Rubin 1979: 344)

Tsvey-dray yor vil ikh oyf dir vartn,
afile finef, iz mir oych keday.
Ikh vel leben nor mit dayne brivelekh
un mutshen vel ikh mikh baym shnayderay.

Freilich mussten die Emigranten bald erkennen, dass Amerika nicht die goldene medine war, von der sie geträumt hatten. Die meisten fanden bloß Arbeit in den Sweatshops, hauptsächlich der Textilindustrie, wo sie für einem erbärmlichen Lohn bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten mussten.

4. Vos bin ikh kayn amerike gelofn

(Rubin 1979: 346)

Vos bin ikh kayn amerike gelofn,
un vosere glikn hobn mikh dort getrofn?
Az elnt bin ikh farblibn,
fun foter un mutter fartribn…

Das Lied mayn rueplats von Morris Rosenfeld, das zum Volkslied geworden ist, beschreibt die Lage eindringlich:

5. Mayn rueplats

(Silverman 1983: 164)

Nikht zukh mikh vo die mirten grinen,
gefinst mikh dortn nikht, mayn shats!
Vo lebens velken ba mashinen,
dortn iz mayn rueplats,
dortn iz mayn rueplats.

Nikht zukh mikh, vo die feygl zingen,
gefinst mikh dortn nikht, mayn shats.
A shklaf bin ikh, vo keytn klingen,
dortn iz mayn rueplats,
dortn iz mayn rueplats.

13. Die Unterwelt

Ein recht umfangreiches Liedgut brachte die jüdische Unterwelt hervor die vor allem in Warschau und Odessa konzentriert war. Stolz auf das Geschick als Dieb oder Einbrecher war ebenso Thema wie Klage über das Leben im Gefängnis und Reue über das vertane Leben. Erpresser, Zuhälter, sogar Mörder wurden besungen. Ich kenn keine Scham und keine Reue, ich hab mein Handwerk doch geerbt: Nicht zu stehlen, nur zu nehmen:

1. Ikh hob nisht kayn shande

(Motek/Slobin 2007: 269)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/1840 )

Ikh hob nisht kayn shande, ikh hob nisht kayn bushe,
mayn profesye‘z mir gekumen biyerushe,
nisht tsu ganven, nor nemen, nor nemen,
nisht tsu ganven, nor nemen, nor nemen.

Yam tidi dam dam, yam tidi dam,
yam tidi didi didi, yam tam tam.

Genau so oft wird aber der Reue Ausdruck gegeben: Der Dieb erzählt, wie er hinter Gittern in der finsteren Zelle liegt und ihm sein Leben schon egal ist. Wie unglücklich ist doch ein Dieb auf der Welt, und was hat er eigentlich für ein Ziel! Vor Jahren hat man schon seine Mutter eingesperrt, und er ist im Gefängnis geboren worden. Eines Tages hat er einen Zigeuner getroffen, der hat ihm fünf Rubel gegeben und ihm beigebracht zu stehlen und Menschen umzubringen.

2. Ikh lig hinter grates

(Motek/Slobin 2007: 271)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/1841 )

Ikh lig hinter grates in finstern getselt
es geyt mir nit onet mayn leben.
Akh vi umgliklekh s‘iz a ganev af der velt
un tsu vos far a tsil tut er shtreben.

Mit yorn tsurik hot men mayn mamenyu farshikt
dortn tsvishn grobe moyern.
Got hot aropgeshikt an umglik af mir,
un in tfise hot mikh mayn mamenyu geboyrn.

Man könnte vielleicht eine kleine Kulturgeschichte der jüdischen Unterwelt nur auf Grund von Liedern schreiben. Salve, der Dieb beschreibt seine drei Brüder: Ein Taschendieb, ein Zuhälter, ein Spezialist darin von fahrenden Fahrzeugen Ware zu stehlen. Jeder Beruf hat seine Tücken: Der Taschendieb wird leicht verraten, der Zuhälter holt sich die Krankheit von der eigenen Frau, der Pototshnik zerreißt sich die Lunge. Am besten ist es doch, ein Hausdieb zu sein, Ein Lied unterweist den jugendlichen Anfänger in der Gaunersprache: Az ikh zog: a hakhtling, meyn ikh a meser und so weiter. Ein Lied heischt Verständnis für den Ganev: Beneidet ihn nicht um sein Geld, denn er lebt doch gefährlich und wird von allen verachtet. In einem anderen beklagt ein Dieb die gute alte Zeit, wo alle Diebe noch zusammengehalten haben. Heute verrät einer den anderen. Oder ein Gefangener betet zu Gott: Bitte befrei mich aus dem Gefängnis, dann will ich nicht mehr stehlen gehen – außer mit der ganzen Bande. In einem Wiegenlied überlegt die Frau eines Diebs, wie sie ihm zur Flucht aus dem Gefängnis verhelfen kann.

Buenos Aires stand stellvertretend für all die Orte, an die unglückliche junge Frauen von Mädchenhändlern verschleppt wurden.

3. Bunos ayres

(Motek/Slobin 2007: 274))

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/1846

Oy unter dem himl ligt di shtot bunos-ayres,
vu keyn got iz nito af der velt.
Az men nemt azoyne yunge sheyne meydelekh
und men firt avek in bunos-ayres
un men nemt dokh far zey milyonen gelt.

Und ein Bettler singt auf der Straße: Hört, ihr lieben Menschen, ich will euch etwas fragen: Wie kann ein so großer Schmerz Platz finden in einer so kleinen Geige? Gebt ein Almosen!

4. Betler lid

(Motek/Slobin 2007: 147)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/4876 )

Oy hert zikh aynet, mayne libe mentshn,
oy hert sikh aynet, vos ikh vel aykh fregn do:
Ay, vi kumt es aza shtarker veytik
in a kleynem, kleynem fidl?

Und schließlich bleibt noch eine Ballade zu erwähnen, die erzählt, wie ein Junge, als Kind schon von der Mutter verlassen, bei seinem ersten Ding gefasst wird.

5. Azoy vi‘kh bin kayn Pskov arangekumen

(Rubin 1979: 335)
Azoy vi‘kh bin kayn Pskov arangekumen,
gekrign petsh hob ikh bald dem ershtn tog,
M‘hot mikh geheysn toyfn af die katoylishe religie,
s‘siz tsu mir a brokh un oy a klog.

Aber trotz Schlägen und der Drohung mit Sibirien will er nicht der jüdischen Religion abschwören.

14. Arbeiterbewegung

Gleichzeitig mit den Auswanderungsbewegungen begannen sich aber auch in den 1880er Jahren die jüdischen Arbeiter zu organisieren, was natürlich mit schärfster Repressionen beantwortet wurde:

1. Men lost undz nit tsuzamen reydn

(Rubin 1979: 293)

Men lost undz nit tsuzamen reydn,
men lost undz nit tsuzamen shteyn,
men lost undz nit tsusamen shtraykn,
men lost undz nit tsuzamen geyn.

Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Zionisten und Anarchisten debattierten untereinander und agitierten unter den Arbeitermassen: Oh, der Rabbi und der Pope, die verdrehen uns den Kopf mit Religion und Glauben! Mit Sünden und Reue machen sie uns blind, dass man nicht sehen soll, wer uns beraubt.

2. Oy der rebe mit dem pop

(Motek/Slobin 2007: 253)

Oy, der rebe mit dem pop
fardreyen undz dem kop
mit dem religyon un dem gloybn.
Mit neveyres un mit zind
makhn zey undz blind,
az men zol nit zen ver es tut undz beroybn

In einem Streiklied diskutieren zwei Kapitalisten. Der eine meint, man könne die Forderungen der Arbeiter teilweise erüllen, wenn sie versprechen, nie mehr zu streiken. Der andere lehnt das strikt ab: Ich werde meine Fabrik ins Ausland verlegen, und sie wird man alle arretieren.

3. Oy. alles, vos zey fodern, vel ikh zey nit gebn

(Rubin 1979: 298)

Oy. alles, vos zey fodern, vel ikh zey nit gebn,
dos veln zey by mir nit oysfirn.
Ikh vel mayn fabrik kayn zagranitse aroysfirn
un zey vet men do ale arestirn!

1897 wurde der Algemeyner Yidisher Arbetersbund in Lite, Poyln un Rusland gegründet. In der Revolution von 1905 übernahm er in den jüdischen Städten die Führung. Das folgende ist ein Demonstrationslied: Brüder und Schwestern, lasst uns die Hände reichen, lasst uns dem Zaren Nikolai die Wände zerbrechen. Hey, nieder mit der Polizei, nieder mit der Zarenherrschaft in Russland. Lassen wir uns nicht quälen, lasst uns Nikolai die Jahre verkürzen. Kosaken, Soldaten, runter vom Pferd, der russische Kaiser, er liegt schon in der Erde!

4. Daloy politsey

(Motek/Slobin 2007: 257)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5980 )

(https://www.jewish-music.huji.ac.il/content/ale-gasn-hey-hey-daloy-politsey )

Brider un shvester, lomir zikh gebn die hent,Gehen
lomir Mikolayklelen tsebrekhn di vent!

Hey, hey, daloy politsey;
Daloy samodershavye v rossey!

Noch ein Pennysong von Morris Rund: Der Sieg der Mantelmacherinnen. Im Jahr 1910 streikten die New Yorker Mantelmacherinnen – die cloak makers – acht Wochen lang und setzten bessere Arbeitsbedingungen durch und das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

5. Der zig fun die klokmeykers

Bakant iz a yedn
fun kind bis tsum zeydn
der strike, vos hot zikh gemakht.
Die klokmeykers file,
di brave, di shtile,
geshtraykt hobn zey vokhn akht.
Zeyer shmertsn un veyen
un yomergeshreyen
hot men yornlong nisht gehert.
Un endlikh, huray,
far dem fimftn Dzhulay
a strike hobn zey gor derklert

Auf die Lieder des Bundisten Mordechai Gebirtig und des Anarchisten David Edelstadt gehe ich hier nicht ein, weil sie den meisten als Autorenlieder bekannt sind/waren.

Spottlieder wurden gesungen: von den Zionisten gegen die Bundisten, den Bundisten gegen die Zionisten, von den religiösen gegen die politisch organisierten: Die Streiker sind alle getötet worden, niemand fürchtet sie mehr und wir können jetzt ruhig wieder die Tora studieren.

6. M‘hot shoyn far di straykers nisht kayn moyre

(Rubin 1979: 301)

M‘hot shoyn oysgeharget ale straykers,
m‘hot shoyn far di straykers nisht kayn moyre.
m‘ken shoyn geyn lernen fray di toyre.

Obwohl die Anarchisten im Rayon nicht viele Anhänger hatten, wurden zwei ihrer Helden in Liedern geehrt: Für den 1. Mai 1902 bereiteten die jüdischen Arbeiter von Vilna eine Demonstration vor. Der Gouverneur von Wahl wurde benachrichtigt und ließ sie öffentlich auspeitschen. Hirsh Lekert, ein armer Schuhmacher, verübte darauf ein Attentat auf den Gouverneur, erfolglos. Er wurde am 29. Mai gehängt. Ach, man hängt mich schon, und ich kann nichts dagegen tun. Ich bitte euch, meine lieben Brüder, rächt euch an der Tyrannen-Nation!

7. Oy mir tut men shoyn hengen

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5967 )

(Rubin 1979: 302)

(Silverman 1983: 112)

Oy mir tut men shoyn hengen
un ikh ken shoyn gornisht tun
betn bet ikh aykh, mayne libe brider
ir zolt zikh rekhenen mit dem tiranen natsion

Am 1. Mai 1906 erschoss in Warschau Boruch Shulman den verhassten Polizeikommissar Konstantinov. Danach sprang er auf eine Straßenbahn und wäre entkommen, doch mit einem Blick zurück sah er, wie sein Kamerad David Apt von der Polizei von der Polizei festgenommen wurde. Darauf sprang er ab, lief zurück und erschoss drei Soldaten, bevor er und Apt selbst erschossen wurden: Schöne Blumen blühen auf Baruchs Grab. Das ganze Volk wird kommen und knien vor Baruch, dem berühmten Helden.

8. Baruch Shulman

(Rubin 1979: 303)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5326 )

Sheyne blumen tu-en blie-en,
bay Boruchs keyver oyf der velt.
Dos gantse folk vet kumen kni-en,
far Berukh Shulman, dem bevustn held.

15. Zionismus

Der Zionismus war die zweite große Strömung, die aus der Haskala hervorging. Zu einer Zeit, als in Europa auch andere Gruppen sich als Nationen entdeckten. Morris Rosenfeld hat die Ideologie in einer Hymne schön zusammengefasst: Wir wollen in Zion nicht sterben, sondern aufleben, fröhlich und frei, unsere Garben binden, unsere Schafe füttern, Ölivenbäume pflanzen und dabei Psalmen singen. Mit Mut, mit Mut, Abrahams Kinder, hebt auf die weiße Fahne: Ein Gott, ein Land, ein Glauben sind uns gegeben von oben.

1. Zelner Fun Zion

Morris Rosenfeld

(Rubin 1979: 380)

(https://www.youtube.com/watch?v=coxX4dhKpJc )

Mir viln in tsion nit shtarbn,
nor oyflebn freylekh und fray.
Yo, bindn dort undzere garbn,
un fitern shof fun dos hay.
Mir viln dort eylberten flantsn,
un zingen tehilim derbay,
mir viln nokh zen dortn glantsn
dem alt-nayem yidishn may!

Mit mut, mit mut, geshvinder!
Avrohoms un yankevs kinder,
hoybt oyf die vayse fone
un trilert mit kavone:
Eyn got, eyn land, eyn gloybn,
iz undz bashert fun oybn.

Es gab einen linken Zionismus, der von einem sozialistischen Palästina träumte, das auf der Genossenschaft aufgebaut sein sollte, dem Kibbutz. Aber es gab auch Kritik von der linken Arbeiterschaft: Wie könnt ihr Arbeiter damit zufrieden sein, dass wir unser eigenes Land haben werden. Dort werden eben die reichen Juden herrschen, und wir Arbeiter werden weiter in ihrer Hand sein.

2. Vi kent ir arbeter zayn tsefridn

(Rubin 1979: 378)

Vi kent ir arbeter zayn tsefridn,
vos mir veln hobn undzer eygn land;
Dort veln hershn di raykhe yidn
nor mir verker – bay zey in hant.

Auch in Palästina kam die Enttäuschung schnell: Ich bin ein Pionier, aus der Diaspora gekommen, ich habe die Kanonen Denikins und Petluras gehört. Wer redet da von Idealen? Ich habe Glück gesucht und Elend gefunden. Ich arbeite wie ein Pferd, ohne Heute und Morgen, vierdiene keinen Piaster, und keiner will mir borgen.

3. Bin ikh mir a kholuts

(Rubin 1979: 385)

Bin ikh mir a kholuts
fun goles ongekumen,
‘kh hob denikinen gehert
und petluren brumen.

Vos mir idealn
ver mir palestine
Ikh hob glikn gezukht,
a make hob ikh gefinen.

‘kh arbet vi a ferd
on a haynt un on a morgn,
oysgeyn far a piaster,
‘s vet dir kayner borgn.

Und dann gibt es auch noch Schlangen und Skorpione und Flöhe und Läuse und auch wilde Araber…

Und auch in Palästina tat sich wieder der Gegensatz zwischen den Frommen und den Fortschrittlern auf. Die Organisierten spotten über die Frömmler: Ich will nicht in die Gewerkschaft gehehn, dort trägt man ja keine Kippa! Wir wollen arbeiten in Gebetsschal und Kaftan!

4. ‘kh vil nit geyn in histadrut

(Rubin 1979: 387)

‘kh vil nit geyn in histadrut,
zey geyn dort one hitlen.
Arbeten veln mir
in taleysim un in kitlen.

In den Kibbutzim wurde ähnlich wie in Europa in den Jahren um 1968 mit verschiedenen Formen des gemeinschaftlichen Lebens experimentiert.

5. Avu bistu geven?

(Motek/Slobin 2007: 235)

Avu bistu geven, avu bistu geven,
tokhter, mayne getraye?
Geven in a kvutsa, gevorn a khalutsa,
mame, ‘s iz gevezn a mekhaye!

Un vu bistu geshlofn? Un vu bistu geshlofn?
Tokhter, mayne getraye?
Af a bodem hey, mit khalutsim tsvey,
mame, ‘s iz gevezn a mekhaye.

Wo bist du gewesen, meine liebe Tochter? Im Kibbutz, ich bin eine khalutsa, eine Pionierin geworden, Mutter, es war wundervoll! Und was hast du gemacht? Ich hab Steine geschleppt und mir den Rücken zerbrochen, Mutter, es war wundervoll. Und wo hast du geschlafen? Auf einem Heuboden mit zwei Pionieren, Mutter, es war wundervoll!


16. Sowetunion

Die Revolution von 1917 bedeutete für die russischen Juden zunächst echte Befreiung. Es entstanden Loblieder auf den Sozialismus und die Sowjetunion.

Im Bürgerkrieg sang der junge Soldat der Roten Armee: Zu Nikolai mit Weinen und Flüchen im Ranzen, zur Roten Armee geht man mit einem Tänzchen.

1. Tsu nikolken mit geveyn

(Rubin 1979: 401)

Tsu nikolken mit geveyn,
kloles inem rentsel.
In der roytinker armey,
geyt men mit a tentsel.

Ein Lied besingt den Maschinengewehrschützen Liova: Ach, als Liova an die Front gekommen ist, hat er drei Tage nicht geschlafen. Er hat die Bourgois geschlagen, bis ihn eine Kugel ins Herz getroffen hat.

2. Oy, vi Liove iz af di frontn gekumen

(Rubin 1979: 402)

Oy, vi Liove iz af di frontn gekumen,
dray mesles hot er nit geshlofn,‘
di burzhushikes hot ger geshlogen,
un a koyl hot in harts in getrofn.

Eine Frau besingt ihre neue geistige Freiheit: Ich bin nicht mehr eine närrische Jidene, jeden Abend geh ich in den Klub, lese Zeitungen, ein Buch, ich bin eine Zufriedene.

3. Ikh bin shoyn gevorn itzt nit kayn nar a yidene

(Rubin 1979: 406)

Ikh bin shoyn gevorn itzt nit kayn nar a yidene,
ale nakht gey ikh in klub,
leyen tsaytungen, a bukh,
ikh bin a tsefridene.

Der technische Fortschritt wurde besungen und die Hoffnung, dass daraus auch eine besseres Leben für die Arbeitenden entstehen würde. Hoffnung erweckte die Errichtung der autonomen jüdischen Sowjetrepublik Birobidschan:

4. Varf nor a blik: a benkl fabrik

(Rubin 1979: 413)

Varf nor a blik: a benkl fabrik,
mir hobn af vos tsu zitsn:
me makht dort bufetn, hiltserne betn,
gezunterheyt tsu farnitsn.

Großen Zorn rief der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion hervor: Juden, Russen, Ukrainer, Polen, Tataren, Georgier, krempelt die Ärmel auf und schlagt die Deutschen wie ihr nur könnt!

5. Yidn, rusn, ukrainer

(Rubin 1979: 417)

Yidn, rusn, ukrainer,
poyln, totern, gruziner,
nemt farkatshet beyde hent,
shlogt dem daytsh vi vayt ir kent!

17. Nazizeit

1. Yeder ruft mikh Ziamele

(Silverman 1983: 194)

(https://folkways-media.si.edu/liner_notes/folkways/FW08720.pdf )

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5738 )

Yeder ruft mikh Ziamele,
oy, vi mir iz shver.
‘kh hob gehot a mamele,
‘kh hob zi shoyn nit mer.
‘kh hob gehot a tatele,
hot er mikh gehit,
itst bin ikh a shmatele,
vayl ikh bin a yid.

In den Lagern und Ghettos war das Singen – und jede Form der Kulturarbeit – ein Mittel zum seelischen Überleben. Das folgende ist ein altes Volkslied von der Form der Zähllieder: Zehn Brüder sind wir gewesen, haben gehandelt mit Wein, einer von uns ist gestorben, da waren wir nur noch neun. Und so herunter bis zum letzten: Ein Bruder bin ich nur geblieben, hab gehandelt mit Lichtern. Sterben tu ich jeden Tag, denn zu essen hab ich nichts. Martin Rosenberg – Künstlername Rosebery d’Arguto – hatte sich in Deutschland in der Arbeiterchorbewegung engagiert, bevor er von den Nazis verhaftet wurde. Im KZ Sachsenhausen leitete er einen heimlichen Chor. Als er 1942 erfuhr, dass die jüdischen Häftlinge nach Auschwitz überstellt werden sollte, komponierte und arrangierte er dieses Lied als letzte Form des Widerstands. Der Refrain lautete nun nicht mehr: spielt mir ein Liedele mitten auf der Gass‘.

2. Tseyn brider

(http://holocaustmusic.ort.org/places/camps/central-europe/sachsenhausen/kulisiewiczaleksander/jdischertodessang/ )

Tseyn brider zenen mir gevezn,
haben vir gehandlt mit vayn.
Eyner iz geshtorbn,
zenen mir geblibn nayn:
Yidl mit dem fidele,
Tevye mit dem bas,
shpiltshe mir a lidele
misn vir ins gas!

Bevor die eigentliche Vernichtung begann, wurden die Juden in Ghettos in Polen und Litauen eingesperrt. In den Ghettos herrschte eine Scheinnormalität. Die Verwaltung wurde jüdischen „Ältesten“ übertragen, wer Glück hatte, konnte Arbeit finden in einem Betrieb, der für die Wehrmacht produzierte, wer Geld hatte, konnte Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt kaufen, man kümmerte sich so gut es ging um Waisenkinder und alleinstehende Alte. Aber viele gingen schon in den Ghettos an Krankheiten zugrunde oder verhungerten. In den großen Ghettos von Warschau, Wilna oder Lodz gab es bis zum Schluss Theateraufführungen, klassische Konzerte, Unterhaltungsmusik, die die Moral der Bewohnerinnen und Bewohner aufrecht erhielten. Ein Volkssänger, der auf Straßen und in Höfen für ein paar Pfennige sang, war Yankele Hershkovitz, ein junger Wanderschneider aus Böhmen, den die Deutschen ins Ghetto Lodz eingewiesen hatten. Seine Lieder waren sehr beliebt und einige sind überliefert worden: Jetzt kommt der liebe Winter und bringt Angst und Schrecken. Kein Mantel, kein Hemd, und bald kommt das Fest Simchas Tora. Ich hab schon die Kredenz verkauft und das Bettzeug von der Schwiegermutter, das wird gerade für Brot und Butter reichen und Pferdefleisch-Laibchen.

3. S’geyt der liber vinter

(http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/lodz/hershkovitchyankele/vus-zol-men-tien-yidn/)

S’geyt der liber vinter
S’falt a shrek a moyre,
Nisht kayn paltn, nisht kayn beged,
S’vet zayn simkhes toyre.
Kh’hob farkoyft di shank shoyn
In di shvigers betn,
S’vet mir startchn broyt in piter
In ferd’s flaysh kokletn.

Vus zol men tien yidn
Az es iz aza min klug!
Vus zol men tien mentshn?
Esn darf men yedn tug!
Az der mugn vil nisht visn,
Fin kayn geto zakh,
Nor er shrayt in er farlangt 
Tsi esn zeyer a sakh.

Pferdefleisch, das einzige Fleisch, das auf dem Schwarzmarkt zu haben war, war natürlich nicht koscher. Viele haben sich vom Rabbi die Dispens geholt – bei Gefahr für Leben und Gesundheit gelten die Speisevorschriften nicht – und nur die Strenggläubigen haben es ganz verschmäht. Yankele hat darüber gesungen: Ich hab Fleischlaberln für alle Juden gemacht. Mit Pferdefleisch sind die Menschen auch zufrieden. Stellt man es weg für später, fängt es zu stinken an. Dann spült man es eben mit einem Gläschen Tee mit Saccharin hinunter.

4. Ikh hob gemakht kokletn

Yankele Hershkowitz

(http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/lodz/ikh-hob-gemakht-kokl/ )

Ikh hob gemakht kokletn,
Tsulib ale yidn.
In fin ferder’s flaysh kokletn,
Zenen mentshn oykh tsefridn
Men shtelt avek oyf shpeter shtayn
Vet es bald farshtinken,
Trinkt men nukh a gleyzel tay,
Mit a sakharinke.
Bim, bom, bim, bom biribom
Bim bim bom biribiribom.

Kritik hat er auch an Chaim Rumkowsky geübt, den die Deutschen als „Ältesten der Juden“ eingesetzt hatten. Der nahm für sich und seinen „Beirat“ Privilegien in Anspruch, besseres Essen und größere Wohnungen, verfolgte die Politik, dass das Ghetto und seine Bewohner so lange überleben würden, wie sie sich den Deutschen und der Wehrmacht nützlich machten. Es war ein Irrglaube, und auch Rumkowsky ging in Auschwitz zugrunde. Als er für sich und seinen Beirat eine Villa als Erholungszentrum einrichtete, spottete Yankele:

5. A pensyonat

Yankele Hershkowitz

(http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/lodz/a-pensjonat/ )

A ‘pensyonat’ gevot oy makhn,
Oy vey,
A ‘pensyonat’ gevot oy makhn,
Fresn, zoyfn in uplakhn,
Oy vey,
Fresn, zoyfn in uplakhn,
Oy vey.

Als die „Endlösung“ begann, wurden die Ghettos nach und nach liquidiert. Eine anonyme Ballade erzählt, wie 4000 junge Juden aus dem Ghetto von Vilna nach Ponar gebracht wurden, um dort erschossen zu werden, und sich buchstäblich mit Zähnen und Klauen wehrten und mit bloßen Händen einige SS-Männer töteten, bevor sie selbst getötet wurden.

6. Aroys iz in vilne a nayer bafel

(Rubin 1979: 445)

(Silverman 1983: 190)

(https://exhibitions.yivo.org/items/show/5765 )

Zey hobn gevorfn zikh ofy der geshtapo
un zey di kleyder tserisn.
Geblibn zeynen lign lebn di yidn
etlakhe daytshn tsebisn.

In der ganzen Welt kämpften Hunderttausende Juden und Jüdinnen gegen den Hitler-Faschismus, in zivilen politischen Widerstandsgruppen, in Partisanengruppen im Untergrund und in den alliierten Armeen. Lasst uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen, rief der Dichter Abba Kovner im Ghetto von Wilna auf. Das Lied über den Partisanenkommandanten Itzig Wittenberg erzählt, wie er, auf ein Ultimatum der SS, sich freiwillig stellt, um das Ghetto vor der Vernichtung zu bewahren: Zum Tod geht stolz der Kommandant!

7. Itsik Vitnberg

Shmerke Kaczerginski

(https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/music/vilna_partisans_itzsik_vitnberg.asp )

Gezogt hot dan itsik
Un durkh vi a blits iz –
„Ikh vil nit ir zolt tsulib mir
Darfn dem lebn
Dem soyne opgebn“…
Tsum toyt geyt shtolts der komandir!

Doch die Partisanen kämpfen weiter: Dem Faschisten kommt das Zittern, denn er weiß nicht, wo und wann Juden von unter der Erde hervorstürmen werden, jüdische Partisanen!

8. Fun die getos tfise vent

Shmerke Kaczerginski

(http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/vilna/yid-du-partizaner/ )

Fun di getos tfise vent
in die velder fraye!
Anshtat keytn oyf di hent
‘kh halt a biks, a nayem.
Af die oyfgabes mayn fraynd
kusht mikh hals und aktsl.
Mit mayn biks bin ikh fun haynt
fest tsunoyf gevaksn.

Veynig zenen mir in tsol,
drayster vi milionen
raysn mir oyf berg un tol
brikn, eshalonen.
Dem fashist fartsitert werd,
er veyst nit, vu, fun vanen
shturmen Yidn fun unter der Erd:
Yidn, partizanen!

Literatur

Grözinger, Elvira und Hudak-Lazić, Elvira (2008): Unser Rebbe, unser Stalin… Jiddische Lieder aus den St. Petersburger Sammlungen von Moishe Beregowski (1892–1961) und Sofia Magid (1892–1954). Wiesbaden.

Motek, Chana and Slobin, Mark (2007): Yiddish Folksongs from the Ruth Rubin Archive. Detroit.

Rubin, Ruth (1979): Rubin 1979: of a People. The Story of Yiddish Folk Song. Philadelphia.

Silverman, Jerry (1983): The Yiddish Songbook. More than 110 marvelous songs in transliterated Yiddish, and in English – with music and guitar chords

Onlinequellen für Feldaufnahmen:

The Ruth Rubin Legacy: https://exhibitions.yivo.org/exhibits/show/ruth-rubin-sound-archive/recordings/the-ruth-rubin-collection

The Yiddish Song of the Week Blog: https://yiddishsong.wordpress.com/

Music and the Holocaust: http://holocaustmusic.ort.org/

Sag niemals, du geht den letzten Weg: https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/music/intro.asp

A harter Summer

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THERE IS NO PLANET B

Pfiat eich Gott, es schönen Gletscher,
pfiat di Gott, du schöner Wald!
Pfiat eich Gott, es Fisch im Wasser,
eicher See is nimmer kalt!
Pfiat di Gott, du sanfter Frühling,
hast ma lang, ja lang schon g’fehlt,
wäu es kummt a harter Summer,
a harter Summer über d‘ Welt!

Pfiat di Gott, du Stadt Venedig,
schaust so stolz und prächtig her.
Pfiat eich Gott, New York und Shanghai,
auf eich lauert schon des Meer.
Pfiat di Gott, du Dorf in Bangla,
überschwemmt is bald des Feld,
wäu es kummt a harter Summer,
a harter Summer über d’Welt.

Pfiat eich Gott, Kuckuck und Enzian,
pfiat eich, Storch und Edelweiß!
Pfiat eich, Pinguin und Robben,
langsam schmilzt dahin des Eis.
Pfiat eich all die tausend Wesen,
von denen no kaa Buach erzählt,
wäu es kummt a harter Summer,
a harter Summer über d’Welt.

Unser Haus fangt an zum brennen!
„Mia miassn löschen!“, ruaft a Kind.
Aber die vom Feuer reich wer’n,
stell’n si taub und stell’n si blind.
Aber die vom Feuer reich wer’n,
zündeln weiter nur für’s Geld.
Und es kummt a harter Summer,
a harter Summer über d’Welt!

Warum glaube ich, dass es für meine kleine Tochter gut ist, wenn ich gegen die Inhaftierung eines iranischen Lehrergewerkschafters protestiere?

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Esmail Abdi, Leiter der Lehrergewerkschaft in Teheran, ist zu 6 Jahren Haft verurteilt worden. Kurz zuvor haben die Lehrer und Lehrerinnen in landesweiten Kundgebungen dagegen protestiert, dass die Mehrheit von ihnen unter der Armutsgrenze leben muss. Was geht uns das an?
Besser bezahlte LehrerInnen bedeuten besser ausgebildete Kinder. Besser gebildete Menschen sind weniger anfällig für Nationalismus, religiösen Fanatismus und Terrorismus, weil sie aufgeklärter sind und eine Lebensperspektive haben. Besser gebildete Menschen lassen sich weniger leicht von Führern manipulieren. Besser gebildete Menschen haben bessere Möglichkeiten, in ihrem Land Demokratie durchzusetzen. Der Iran ist in alle kriegerischen Konflikte im Nahen Osten verwickelt, die oft unter religiösen Vorzeichen geführt werden. In einem demokratischen Iran hätte die Friedensbewegung bessere Chancen, sich durchzusetzen. Ein friedlicher Iran würde den Frieden im Nahen Osten näher bringen. Frieden im Nahen Osten bedeutet weniger Kriegsgefahr für die ganze Welt, weniger Terrorismus, weniger Flüchtlinge, weniger Angst, weniger Hass, weniger Gefahr für meine kleine Tochter.
Weit hergeholt? Ja. Aber diese Unterschrift ist auch nur eines von den vielen Dingen, die ich glaube tun zu müssen, um die Welt für meine Tochter sicherer zu machen

Berechtigt sozialer Determinismus zum Fatalismus?

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(Überlegungen zu einem Seminar über Anthropologie des Krieges)

Wenn sich die sozialen Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom Willen der Menschen durchsetzen, heißt das also, dass wir uns nur zurücklehnen, die Arme verschränken und zuschauen können, wie die Geschichte ihren Lauf nimmt? Ich glaube nicht. Denn die sozialen Gesetzmäßigkeiten setzen sich gerade dadurch durch, dass Menschen etwas TUN. Es stimmt schon, dass (beispielsweise) das Erstarken des Feminismus eine Folge davon ist, dass die Frauen in die wirtschaftlichen Prozesse hineingezogen worden sind, und nicht die Ursache. Trotzdem würde es alle die Rechte, die Frauen heute haben und früher nicht hatten, nicht geben, wenn Feministinnen sie nicht erkämpft hätten. Zu einer anderen Zeit hätten sie das nicht erreichen können, das stimmt, aber von selber wären diese Rechte auch nicht gekommen.

Revolutionen können nur geschehen, wenn die Zeit dafür reif ist, wenn der historische Moment dafür gekommen ist. Aber wenn der historische Moment da ist, und niemand etwas tut, dann passiert auch nichts.

Ob der Weltfrieden eines Tages möglich sein wird, können wir nicht wissen. Wir können es nicht wissen, weil wir die Entwicklung aller Parameter, die sich darauf auswirken, nicht vorhersagen können. Zum Beispiel, wie sich die Automatisierung und Roboterisierung, die ja schon begonnen hat, auf die globale Ressourcenverteilung auswirken wird. Aber wenn der historische Moment kommt und es sind keine HumanistInnen und IdeologInnen da, die den Frieden predigen und die Frage stellen, ob man die Waffen noch braucht, dann bleiben die Atomsprengköpfe eben scharf.

Aus dieser Sicht kann man allen WeltverbesserInnen und TräumerInnen nur sagen: Ja, verfolge deine Utopie, arbeite sie aus, propagiere sie, und sollte die Zeit für diesen Traum reif werden, dann wird er verwirklicht werden. Oder um es in den trockenen Worten der Makrosoziologie auszudrücken: Wenn deine Ideologie funktioniert, dann wird sie sich durchsetzen.

Aber es gibt noch einen Gesichtspunkt, der in diesem Seminar meiner Meinung nach zu kurz gekommen ist: Der Mechanismus, durch den sich evolutionäre Gesetzmäßigkeiten durchsetzen, ist Mutation und Selektion. Selektion geschieht unter anderem durch Konkurrenz. Aus der Biologie wissen wir, dass eine Spezies, die „gut genug“ angepasst ist, theoretisch unbegrenzt überleben kann (solange die Umweltbedingungen sich nicht ändern). Wenn aber eine besser angepasste Spezies in ihre Nische eindringt, wird die weniger gut angepasste verdrängt. Als in Nordamerika Placentatiere aus Asien einwanderten, verdrängten sie die dortigen Beuteltiere. In Australien konnten sich Beuteltiere – ohne die Konkurrenz von Placentatieren – bis in die Gegenwart bestens halten.

In der gesellschaftlichen Evolution haben sich jeweils die produktiveren Gesellschaften gegen die weniger produktiven durchgesetzt, und nicht die, die für die Menschen die angenehmeren waren. Daher der Trend zu immer mehr Ungleichheit: Je mehr von den Ressourcen, die die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung erzeugt, die Eliten bei sich konzentrieren können, um so mehr können sie investieren – einerseits direkt ins Militär, andererseits in technische Entwicklungen, die die Produktivität und damit auch wieder die militärische Schlagkraft erhöhen. So waren also Ausbeutergesellschaften gegenüber egalitären Gesellschaften praktisch immer überlegen.

Aber wenn gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten sich durch Konkurrenz durchsetzen – was ist, wenn die Konkurrenz irgendwie aufgehoben werden kann?

Zum Beispiel bestimmt sich in der Marktwirtschaft die Höhe von Preisen durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Wenn das Angebot hoch ist, stehen die Anbieter miteinander in Konkurrenz: Ich muss meine Ware billiger hergeben, sonst verkauft mein Konkurrent seine Ware. Wenn die Nachfrage hoch ist, stehen die Käufer in Konkurrenz: Ich muss mehr zahlen, sonst bekommt mein Konkurrent die Ware.

Angebot und Nachfrage bestimmen auch den Preis, den Arbeitende für ihre Arbeitskraft bekommen können, also die Löhne und Gehälter. Durch den technischen Fortschritt – durch Rationalisierung – werden immer wieder Arbeitende überflüssig gemacht. Das Angebot an Arbeitskräften ist also meistens höher als die Nachfrage. Dadurch stehen die Arbeitenden in Konkurrenz zueinander. Wer den Job haben will, muss akzeptieren, was geboten wird. Durch die Bildung von Gewerkschaften ist es den Arbeitenden aber gelungen, die Konkurrenz untereinander auszuschalten. Wenn sie einander nicht konkurrieren, können sie höhere Löhne erzielen, als sie beim freien Spiel von Angebot und Nachfrage bekommen würden. Im schlimmsten Fall können sie streiken. Wenn sie die Konkurrenz untereinander durch Abmachungen verhindern, können sie also soziale Gesetzmäßigkeiten – bis zu einem gewissen Grad jedenfalls – aushebeln. Die Erfolge, die sie auf nationaler Ebene in vielen Ländern erreicht haben, werden durch die Globalisierung teilweise wieder zunichte gemacht, weil heute Arbeitende auf der ganzen Welt miteinander konkurrieren. Doch prinzipiell kann auch diese Konkurrenz aufgehoben werden.

Kann auch die Konkurrenz zwischen Staaten, zwischen Gesellschaften aufgehoben werden?

Meiner Meinung nach gibt es heute zwei Arten von Konflikten: Erstens: Konkurrenz um Ressourcen, allen voran ums Öl, vielleicht bald auch um Wasser oder auch – wegen der globalen Erwärmung – um bebaubares Land. Ein Konflikt um Ressourcen kann aber auf unterschiedliche Arten gelöst werden: Durch gewaltsame Aneignung – oder durch eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen, so dass sie dann doch für alle reichen. Wie weit können z.B. nachhaltige Energiegewinnungsmethoden den Konflikt ums Öl entschärfen? Man müsste es ausrechnen.

Die zweite Form von Konflikt ist die Konkurrenz um Märkte. Da die Konkurrenz unter den Unternehmen sie dazu drängt, Kosten zu sparen, um billiger verkaufen zu können, sind alle Unternehmen dazu gedrängt, die Löhne möglichst niedrig zu halten. Dadurch hat die Bevölkerung aber nicht die Kaufkraft, um alles, was produziert wird, auf die eine oder andere Art wieder zu konsumieren (Auch die Unternehmen, die Produktionsgüter herstellen, sind darauf angewiesen, dass die Konsumgüterindustrie floriert und Produktionsgüter nachfragt). Daher die Konkurrenz um Märkte, die schon zu zwei Weltkriegen geführt hat. Wenn es den Arbeitenden global gelingt, die Konkurrenz untereinander aufzuheben und sich dadurch einen höheren Anteil an den von ihnen geschaffenen Werten zu sichern, kann das die Konkurrenz um Märkte entschärfen. Genug, um den nächsten Weltkrieg zu verhindern?

In den Naturwissenschaften suchen wir nach Gesetzmäßigkeiten, um sie anzuwenden. Jede Gesetzmäßigkeit, die wir anzuwenden lernen, erweitert unsere Handlungsmöglichkeiten, macht uns freier. Wenn wir die Gesellschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden nach Gesetzmäßigkeiten untersuchen, warum sollen die gefundenen Gesetzmäßigkeiten sich nicht anwenden lassen? Das Problem ist: Damit die Gesellschaft die erkannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten auf sich selbst anwenden kann, müssen viele Menschen sich einigen. Das ist nicht leicht. Aber im Gegensatz zu anderen Systemen besteht das System Gesellschaft aus Elementen, die denken und erkennen können. Und wenn Spencer, Carneiro, Ferguson, Hakami und wir SeminarteilnehmerInnen das System durchschauen können, warum sollten das nicht alle Menschen können?

Das fundamentale Problem

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„Das fundamentale Problem ist nicht, dass einige Wenige so vermögend sind. Sondern dass zu viele Menschen nur sehr wenig bis nichts besitzen. Wie denken Sie darüber?“ fragt Agenda Austria.

Hier meine Antwort:

Das fundamentale Problem ist nicht, dass einige wenige viel haben. Das Problem ist nicht, dass sie mehr Luxusvillen, Privatjets und Jachten haben als die vielen. Sondern dass diese wenigen bestimmen, was die vielen zu produzieren haben. Und sie lassen nicht das produzieren, was der Gesellschaft am meisten nützt, sondern das, was ihnen den größten Gewinn bringt. Und zwar nicht, weil sie persönlich so gierig sind, sondern weil sie Gewinn brauchen, um investieren zu können, weil sie sonst von der Konkurrenz verdrängt werden. Wenn Gift den größten Gewinn verspricht, produzieren sie Gift (z.B. Monsanto), wenn Waffen den größten Gewinn versprechen, produzieren sie Waffen (z.B. Lockheed). Gesunde Nahrungsmittel produzieren sie nur, wenn damit genug zu verdienen ist. Sie produzieren Bio für den Mittelstand und Junkfood für die Armen. Sie investieren in Umweltschutz, wenn es dafür Abnehmer gibt, und sie zerstören die Umwelt, wenn ihnen niemand auf die Finger schaut (z.B. Palmöl). Darüber, was das Produkt tatsächlich leistet, lassen sie die Konsumenten und die Öffentlichkeit nach Möglichkeit im Unklaren (z.B. VW). Sie lassen nach Möglichkeit dort produzieren, wo die Arbeitskraft am billigsten ist, wo die Steuern am niedrigsten sind, die Umweltauflagen am laxesten und die Sozialgesetzgebung am unmenschlichsten (z.B. Textilindustrie). Wie viel sie das Produkt wirklich gekostet hat, unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde und von wem, das verraten sie nur, wenn man es ihnen nachweisen kann. Sie bezahlen Lobbyisten, um gewählte VolksvertreterInnen für ihre politischen Pläne zu gewinnen, sie finanzieren Wahlkämpfe und sie stützen Diktaturen und finanzieren Armeen und Banden, die Menschen daran hindern, sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zu wehren (z.B. Shell in Nigeria, z.B. Chevron-Texaco in Ecuador).

Noch was? Ich kann ja hier kein Buch schreiben.

Noch mal: Sie tun das nicht, weil sie böse Menschen sind. Sie können nicht anders. Die Konkurrenz zwingt sie dazu. Die Gesellschaft als ganzes – und das ist heute freilich die Weltgesellschaft – muss sich einigen, was sie produziert haben will und wie. Solange die Staaten darum wetteifern, den Investoren die günstigsten Bedingungen zu bieten, werden sie in eine Abwärtsspirale getrieben (z.B. Unternehmenssteuern). Solange sich die Arbeitenden mit dem Argument des Wirtschaftsstandorts gegeneinander ausspielen lassen, werden österreichische und chinesische Arbeitende gleichermaßen draufzahlen. Wenn in allen Ländern ähnliche Umweltschutzbestimmungen durchgesetzt wären, würde es für kein Unternehmen einen Konkurrenznachteil bedeuten, sich daran zu halten.

Das fundamentale Problem ist, dass ALLE Unternehmen eigentlich ein Interesse daran haben, dass die Masse über genügend Kaufkraft verfügt, um das, was sie produziert, auch konsumieren zu können. Doch auf Grund der Konkurrenz ist jedes EINZELNE Unternehmen gezwungen, Kosten zu sparen, um den Gewinn für Investitionen zu erhöhen – also auch Lohnkosten zu sparen. Alle zusammen bewirken also, dass die Kaufkraft der Massen zu niedrig ist, obwohl sie alle ein Interesse daran hätten, dass sie hoch genug wäre.

Entgegenwirken können dem nur starke Gewerkschaften. Und heutzutage nur global agierende Gewerkschaften. Wir brauchen global agierende Gewerkschaften, genau so, wie wir global agierende Umweltschutzorganisationen brauchen, global agierende Konsumentenschutzorganisationen, global agierende Menschenrechtsorganisationen, also Organisationen, die tatsächlich die Interessen der Mehrheit der Weltgesellschaft vertreten und durchsetzen.

Noch was? Ich kann ja hier kein Buch schreiben.

Bei der Evolution weiß man nie, was rauskommt

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Es gibt eine Zeitschrift für Unkrautwissenschaft. Eigentlich nur auf den ersten Blick überraschend. In dieser habe ich gelesen, wie der Roggen zur nützlichen Pflanze geworden ist: nämlich weil die Menschen ihn weghaben wollten!

Vor ungefähr zehntausend Jahren haben Menschen im Nahen Osten angefangen, Weizen anzubauen. Der Roggen, ein naher Verwandter des Weizens, hat sich auf den Weizenäckern wohlgefühlt. Er war den Menschen aber zu nichts nütze, denn er hatte nur wenige kleine Körner, und außerdem war er mehrjährig, das heißt, eine junge Pflanze brachte im ersten Jahr gar keine Samen hervor. Aber in den Weizenfeldern ist er prächtig gediehen. Klarer Fall von Unkraut also.

Daher haben die Menschen die Roggenpflanzen ausgerissen, wenn sie sie gesehen haben. Und am leichtesten entdeckt haben sie natürlich die, die am wenigsten wie Weizen ausgesehen haben. Je ähnlicher eine junge Roggenpflanze dem Weizen war, um so besser war ihre Chance, beim Jäten übersehen zu werden. Also ist der Roggen dem Weizen von Generation zu Generation immer ähnlicher geworden, mit größeren Körnern, die weniger leicht abgefallen sind.

Das zweite was passiert ist, war, dass einige Mutanten unter den Roggenpflanzen doch schon im ersten Jahr ausgesamt haben. Wenn die Menschen nach der Ernte ihre Äcker umgegraben haben, haben sie die Wurzeln der Roggenpflanzen dabei ausgerissen. Aber die Körner sind im Boden geblieben. Also ist der Roggen nach und nach einjährig geworden. Aus dem Unkraut ist ein brauchbares Getreide geworden und durfte in den Äckern stehen bleiben. Und als sich der Ackerbau nach Norden ausgebreitet hat, hat sich gezeigt, dass der Roggen ein härteres Klima aushält als der Weizen, und so war der Getreideanbau im Norden überhaupt erst möglich. Bingo!

Herausgefunden hat das Ganze ein russischer Botaniker namens Nikolai Vavilov. Der ist bei Stalin in Ungnade gefallen und Stalin hat ihn ermorden lassen.

Meisten geht die Sache für uns aber nicht so gut aus wie beim Roggen. Je ausgefeilter die Techniken zur Unkrautvernichtung werden, um so besser passt sich das Unkraut an. Dass Unkräuter resistent werden gegen Herbizide, ist relativ bekannt. Wenn Unkräuter aber nach äußerlichen Gesichtspunkten gejätet werden, passen sie sich äußerlich an. Es gibt zum Beispiel eine Pflanze, die inzwischen fast perfekt wie Linsen aussieht, aber leider nicht essbar ist, weil die Früchte bitter schmecken. Zur Bekämpfung werden Jätroboter eingesetzt, die das Unkraut optisch erkennen sollen. Die tun sich aber von Jahr zu Jahr schwerer …