Die Stapel von Zeitschriften, unbeantworteten Briefen, zu lesenden Büchern, noch nicht weggeworfenen Reklamesendungen und vergeblich aufs Gelesen-Werden wartenden Veranstaltungsankündigungen auf meinem Schreibtisch kommen gelegentlich langsam und unmerklich ins Rutschen, und es kann vorkommen, dass ein Buch vom Gipfel eines solchen Stapels nächtens zu Boden donnert und mich aus dem Schlaf reißt. Solche Poltergeist-Aktivität findet leicht ihre natürliche Erklärung durch die langsamen tektonischen Verschiebungen in den Papierbergen, möglicherweise beschleunigt durch einen vorbeifahrenden LKW. So einer kann das Haus, in dem ich wohne, durchaus spürbar erschüttern.
Schwieriger zu durchschauen war die folgende Begebenheit: In fast jedem Haushalt gibt es heutzutage so einen kleinen batteriebetriebenen Milchschäumer, der für die Herstellung eines perfekten Capuccino unentbehrlich ist. Ein solches Gerät hat sich neulich mitten in der Nacht eingeschaltet, zu rotieren begonnen, sich durch diese Rotation vom Küchentisch auf den Fußboden geschleudert und dort weiter rotiert. Das zunächst unerklärliche Geräusch hat mich in Panik aus dem Bett springen und in die Küche laufen lassen. Fassungslos starrte ich das auf dem Boden herumspringende Gerätchen an. Erst nach ein bis zwei Minuten, in denen ich traumbefangen eine Revision meines materialistischen Weltbilds ernsthaft erwog, wurde mir klar, dass ich selbst den Milschschäumer eingeschaltet hatte, um mir mein abendliches kakaohaltiges Milchmischgetränk zu mixen. Allerdings erfolglos. Das Ding hatte sich nicht gerührt. Ich hatte seine Bewegungslosigkeit auf erschöpfte Batterien zurückgeführt, den Schäumer weggelegt ohne den Schalter zurückzuschieben und mein Suchard-Express mit einem banalen, handbetriebenen Löffel umgerührt. Die Batterien waren aber keineswegs leer, sondern die Achse des Schäumers war wegen mangelhafter Reinigung verklebt gewesen. Das Elektromotörchen hatte unhörbar solange gegen den Widerstand von Kakao- Zucker- und Milchresten angedrückt, bis sich gegen zwei Uhr morgens die Achse gelöst hatte. Weltbild gerettet.
Eine Zeitlang war ich versucht, an eigene übersinnliche Kräfte zu glauben. Windows-Benutzer kennen seit Langem das bei manchen Menschen eine milde Sucht erzeugende Spiel Freecell. Wenn bei diesem Patiencespiel die Asse durch andere Karten teilweise verdeckt sind, kann man nur ihre Farbe, nicht aber ihr Symbol erkennen. Man sieht nur ein rotes oder schwarzes A, weiß aber nicht, ob das rote A ein Herz oder ein Karo, das schwarze ein Pik oder ein Kreuz bezeichnet. Durch Anklicken mit dem rechten Mausknopf kann man allerdings die ganze Karte an die Oberfläche holen und so ihr Symbol erkennen. Doch warum konnte ich, nachdem ich das Spiel so weit beherrschte, dass ich bis zu fünfzig fehlerfreie Durchgänge hintereinander schaffte, plötzlich mit über neunzigprozentiger Sicherheit die Symbole der verdeckten Asse erraten? Monatelang beschäftigte mich dieses Rätsel mehr als das eigentliche Spiel. Und je öfter ich meine telepathischen Fähigkeiten testete, um so besser wurde ich. Mit untrüglicher Gewissheit konnte ich das Herz-As vom Karo-As, das Kreuz-As vom Pik-As unterscheiden, obwohl ich nur zwei absolut identische Großbuchstaben sehen konnte. Erst als ich auf den Gedanken kam, von dem Spiel einen Screenshot zu machen und diesen mit einem Grafikprogramm so weit zu vergößern, dass die einzelnen Pixel erkennbar wurden, konnte ich das Rätsel lösen: Das A des Karo-As ist nur ein Pixel vom Rand der Spielkarte entfernt, das A des Herz-As aber zwei Pixel. Desgleichen liegt das A des Pik-As um ein Pixel näher am Kartenrand als das A des Kreuz-As. Ich hatte den winzigen Unterschied erkannt, ohne dass mir das Erkennungsmerkmal bewusst geworden war. Hier habe ich also selbst ein Beispiel erfahren, wie unser Hirn Informationen aufnimmt und verarbeitet und unserem Bewusstsein nur die Ergebnisse, nicht aber die einzelnen Schritte dieses Vorgangs mitteilt. Nicht alles, was uns unsere Sinne mitteilen, wird uns auch bewusst, und so entsteht der Eindruck von außersinnlicher Wahrnehmung. Vermutlich verarbeiten wir auch körpersprachliche Signale auf ähnliche Weise. Wir wissen über die Stimmung unseres Gegenüber Bescheid, ohne dass wir anzugeben vermöchten, welches Lidzucken, welcher Winkel der Armbeugung oder welche plötzliche Augenbewegung uns diese Informationen gegeben hat. Auch feinere Geruchssignale werden uns kaum jemals bewusst. Vielleicht nehmen wir auf diese Art auch Anzeichen von noch latenten Krankheiten wahr und haben dann möglicherweise einen Wahrtraum vom bevorstehenden Tod einer nahestehenden Person, der dann auch tatsächlich eintritt.
In einem lockeren Zusammenhang mit diesen übersinnlichen Erfahrungen (wer Anführungszeichen braucht um Ironie zu erkennen, möge sie sich dazudenken) steht ein erschütterndes Erlebnis, das ich einige Zeit nach meinem fünfundvierzigsten Geburtstag hatte. Ich träumte, ich sei ein Cyborg, halb Mensch und halb Roboter, und als ich mir nach dem Aufstehen noch halb schlafend vor dem Spiegel die Zähne putzte, musste ich husten und sah, dass eine Wolke weißen Rauchs aus meinem Mund kam. Erschreckend wurde mir klar, dass ich tatsächlich ein Roboterwesen war und gerade einer der Bauteile in meinem Inneren durchgeschmort war.
Kurz vorher hatte mein Zahnarzt mir die vordere untere Zahnreihe gezogen und mir eine neue Zahnprothese angepasst. Das viele fremde Metall in meinem Mund hatte den Traum vom Cyborg ausgelöst. Und der weiße Rauch war das Pulver aus der Penicillinkapsel, die ich gerade geschluckt hatte und die mir anscheinend halb aufgelöst im Hals steckengeblieben war. Befreit atmete ich auf, als mir die Zusammenhänge einsichtig wurden. Ich war doch noch kein Cyborg. Zumindest, solange das Bluetooth-Headset meines Handys noch außen am Ohr befestigt und nicht implantiert ist, hat die Verwandlung noch nicht begonnen.