Über den didaktischen Umgang mit Gedichten

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Von einem Schulbuchverlag erreicht mich folgende Mail:

Im Frühjahr 2010 bringen wir ein Praxisbuch mit dem Titel „Reime finden – Verse schmieden“ heraus. […]

Darin würden wir gerne folgendes Gedicht abdrucken:
Autor: Martin Auer, Titel: Knapp daneben

Da das Gedicht ß enthält,, aber auch in schweizerischen Grundschulen verwendet wird, haben wir die Wörter mit ß so ersetzt, dass sich keinerlei Sinnänderung ergibt. Auf Wunsch können wir in der Quellenangabe statt „von Martin Auer““ auch schreiben „nach Martin Auer“.

Welche Änderungen sie an meinem Gedicht vornehmen wollen, haben mir die Herausgeber des Praxisbuches leider nicht mitgeteilt. Ich habe nachgefragt und bin gespannt.

Aber üben wir das inzwischen einmal mit Goethes „Zauberlehrling“. Mit dem „daß“ brauchen wir uns nicht weiter aufzuhalten, das schreiben inzwischen nicht nur die Schweizer mit ss. Aber weiter im Text:

Walle! walle
Manche Strecke,
Dass, zum Zwecke,
Wasser fließe rinne
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße tja, was nun? entspinne? gewinne? Da geht nix!

Probieren wir’s anders:

Dass, zum Zwecke, Wasser laufe
und in reichem, vollem Schwalle
in die Badewanne traufe.

Na ja, ich weiß nicht…
Vielleicht so:

Walle! walle
Manche Strecke,
Dass, zum Zwecke,
Wasser tröpfle
Und ich dann, bei vollem Schwalle
In die Badewanne köpfle.

Super. Keinerlei Sinnänderung, und die Schweizer Kinder werden nicht durch scharfe ß verwirrt.

Probieren wir es noch einmal. Könnte man wenigstens dann „fließen“ durch „rinnen“ ersetzen, wenn es nicht das Reimwort ist?

Verfließet, vielgeliebte Lieder,
Zum Meere der Vergessenheit!
Kein Knabe sing‘ entzückt euch wieder,
Kein Mädchen in der Blüthenzeit.

Ihr sanget nur von meiner Lieben;
Nun spricht sie meiner Treue Hohn.
Ihr war’t in’s Wasser eingeschrieben;
So fließt denn auch mit ihm davon.

Zu „fließen“ gehört der Fluss, zu „rinnen“ das Rinnsal. Könnte man statt „fließende Gewänder“ „rinnende Gewänder“ sagen? Ausgerechnet die Macher eines Praxisbuches zum Reimen und Verseschmieden wollen mir weismachen, dass man in Gedichten Wörter mit ß so ersetzen kann, dass sich keinerlei Sinnänderung ergibt.

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