Adolf Loos nannte das Ornament ein Verbrechen. Ganz sicher dienten die Stuckverzierungen an den Fassaden der Gründerzeit-Mietskasernen dazu, die kriminellen Wohnverhältnisse hinter diesen Fassaden zu beschönigen. Doch soll man deswegen die unbeschönigte Untat vorziehen, die die schmucklose, eintönige Wohnmaschine darstellt? Die Wohnmaschine demonstriert unverhüllt ihre Verachtung für die Individualität der darin wohnenden Menschen. Die Stuckfassade mit ihren Dämonen, Göttinnen, Engerln, Löwenhäuptern, Gorgonenfratzen, Atlanten und Karyatiden täuscht Individualität wenigstens vor. Vielleicht lässt es ja auch Rückschlüsse auf den Charakter des Bauherrn zu, ob er seine Fenster von prallbusigen Damen ohne Unterleib flankiert oder von kotzenden Teufeln gekrönt sehen wollte. Und während der an die Zinskasernen geklebte Stuck das Elend dahinter bemänteln sollte, signalisierte die Fassade der Bürgerhäuser schamlos den Klassenunterschied zwischen der Beletage und den Dienstbotenkammerln unterm Dach.
Die Zeit lässt ja vergangene Torheiten in milderen Licht erscheinen, und im Vergleich zur lieblosen Nüchternheit der Siedlungsblocks suggeriert der Kitsch von einst heute Wohnlichkeit, Behaglichkeit, Gediegenheit. Zumal ja die früheren Zimmer-Kuchl-Wohnungen und Einzelkabinette zusammengelegt worden sind, die Bassena höchstens noch als nostalgischer Blumentopf am Gang hängt und ein im Hof angebauter Lift einen bis zum ausgebauten Dachboden trägt. Zum entsprechenden Preis natürlich. Das Proletariat muss heute ohne Ornament auskommen und rächt sich durch Graffiti.
Ich jedenfalls hege Sympathie für die dämonischen Torwächter und industriell vervielfältigten Gipsköpfe und sammle ihre Konterfeis. So ist schon ein kleiner Führer durch das gipserne Pandämonium entstanden, das auf den Fassaden unserer Stadt ein geheimnisvolles Leben führt. Einmal im Jahr, in der Nacht zum 18. Juli (Das ist das Gründungsdatum des Zentralverbands der Hausbesitzer im Jahre 1888) kann man leise die Höllenhunde jaulen und die Löwenköpfe brüllen hören, und die identischen Mädchenköpfe über den Fenstersimsen flüstern im Chor den ebenfalls im Chor flirtenden Kriegerköpfen von gegenüber zu: „Gehn S‘, hörn S‘ auf, Sie Schlimmer!“
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