Über Stille, die man nicht hört

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Die Vorbewohner meines Gartens haben an der Mauer zum Nachbargrundstück jahrelang einen kleinen Wald wachsen lassen. Vermutlich nicht absichtlich, sondern weil der Rasenmäher dort nicht hinkommt. Heute habe ich begonnen, die jungen Eichen, Ahorne und Buchen zu roden. Holler und Hasel dürfen bleiben, die wachsen nicht in den Himmel. Die Motorsäge habe ich im Schuppen gelassen und stattdessen den Fuchsschwanz genommen. Lärmfaktor: minimal. Kalorienbilanz: optimal. Nachbarschaftsbelästigung: null. 

Warum ich das in die Welt posaune? Nun, wenn du Lärm machst, hören das alle. Und merken: Da macht mal wieder wer Lärm. Wenn du aber still bist, merkt das niemand. So entsteht der Eindruck, dass Lärm machen normal ist.  Und wenn alle Lärm machen, kann ich doch auch Lärm machen! Lärm machen ist aber nicht normal. Die meisten Leute machen die meiste Zeit keinen Lärm. Dass die Welt trotzdem voller Lärm ist, liegt an relativ wenigen. Und daran, dass, obwohl die meisten Leute die meiste Zeit keinen Lärm machen, sie sich beim Lärm machen abwechseln: Immer macht irgendwer grad jetzt ausnahmsweise Lärm. 

Lärm ist schädlich. Lärm erzeugt Stress. Auch der Lärm, den man „schon gar nicht mehr wahrnimmt“. Lärm auszublenden kostet Nervenkraft. Lärm erhöht den Blutdruck und schädigt die Herzkranzgefäße. Menschen, die fernab von Verkehrslärm und Industrielärm leben, werden auch im Alter nicht schwerhörig. Lärm ist aber auch relativ. Je stiller es rundum ist, umso mehr stört Lärm. Im Konzertsaal stört schon ein einziger Huster. In der Stadt sitzt man in einem Straßencafé und liest in aller Ruhe die Zeitung, während der Verkehr vorbeibraust. Aber im Garten – der Garten ist mein Konzertsaal. Da will ich die Vögel zwitschern hören. Auf die Dezibel kommt’s da gar nicht an. Das Geräusch meiner Motorsäge ist in 500 Meter Entfernung gerade einmal so laut wie das Sprechen einer Person, die einen Meter vor dir steht – und nervt trotzdem, wenn ansonsten nur Bienengesumm und Blätterrauschen zu hören ist. In 100 Meter Entfernung allerdings ist die Motorsäge noch so laut wie ein Staubsauger vor deiner Nase. 

Ich habe mich gerade ein bisschen in einem Onlineforum für Motorsägenbesitzer umgesehen (Besitzerinnen scheinen da nicht vertreten zu sein). Da schreiben Leute, die sich darüber beschweren, dass ihre Nachbarn sich über sie beschweren, weil sie im Garten den ganzen Sommer über Holz für den Winter schneiden. Aber andere schreiben, dass auch sie mit der Motorsäge Holz für den Winter schneiden: In der Garage! Das sind liebe Menschen!

Natürlich kann man von niemandem verlangen, seinen Rasen in der Garage zu mähen. Aber liebe Menschen nehmen im Herbst statt eines Laubbläsers einen Rechen. Und weil man das nicht hört, sollten sich solche Menschen ein Schild an die Tür heften: Hier wird gerecht statt gedröhnt. Menschen, die statt Lärm Stille erzeugen, sollten sich endlich bemerkbar machen. Nicht lautstark natürlich. Aber gut sichtbar. Durch einen Ohrstöpsel im Knopfloch zum Beispiel. Oder durch kleine Glöckchen aus Watte als Ohrringe, die bei jedem Schritt nicht klingeln. Autoaufkleber  wären weniger passend.

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