Wem gehört dieser Garten?

Facebooktwitterredditpinterestlinkedinmail

“Wem gehört dieser Garten?” riefen wir.
“Niemand!” tönte es von hinter der Mauer.
“Wenn er niemand gehört, dann können wir getrost …” begann mein Begleiter.
“Lass nur, es ist ein alter Witz”, sagte ich. “Wer ist dieser Niemand”, rief ich, “ist es ein großer Herr?”
“Der größte! Es ist der König Niemand, der Herrscher von Überall!”
“Ah ja. Und wenn wir den Garten betreten, dann wird Niemand uns einkerkern, Niemand uns foltern und Niemand uns köpfen lassen, ist das so?”
“Das ist so! Es sei denn … ”
“Es sei denn was?”
“Es sei denn, ihr geht links um die Mauer herum bis zur Kasse und zahlt den Eintrittspreis!”
“Und der wäre?”
“Zwei Groschen jetzt und das erste, was euch beim Heimkommen entgegenläuft!”
“Also die Lieblingstochter!”
“Quatsch!” kam eine zweite Stimme. “Der Eintritt kostet den Verstand, nichts weiter!”
“Gibt es Ermäßigung?”
“Nur mit Ausweis, Kriegsblinde gratis!”
“Und was kostet der Ausweis?”
“Zwei Groschen jetzt und das erste, was euch beim Heimkommen entgegenläuft!”
“Und den Verstand!”
“Und das Leben!”
“Und den letzten Nerv!”
“Ich glaube, wir gehen lieber!” sagte ich laut zu meinem Begleiter.
“Zufällig haben wir heute eine Werbeaktion. Hier sind zwei Freikarten!”
Ein Stein flog über die Mauer und traf meinen Begleiter fast an der Schulter. Zwei Eintrittskarten waren mit Klebestreifen darangeheftet.
“Und damit kommen wir hinein?”
“Damit kommt ihr herein!”
“Ohne geköpft zu werden?”
“Niemand wird geköpft!”
“Höchsten gerümpft!”
“Was soll denn das sein?”
“Man wird euch den Rumpf vom Kopf abschlagen!”
Ein Stück Mauer wurde beiseite geschoben. Es war aus Pappe oder vielleicht aus Kunstharz und Glasfaser mit einem Zementanstrich. Eine kleine dicke Frau in einer schäbigen Livree und Turnschuhen lehnte es an den Teil der Mauer, der aus festen Steinen gefügt zu sein schien. Eine zweite Frau, die zur Livree noch eine Rokokoperücke mit Mozartzopf trug, unter der ihr eigenes graues Haar hervorlugte, schob ein Tischchen in die Öffnung und hängte ein Pappschild mit der Aufschrift “Kassa” daran.
Zwei Männer mit dunklen Brillen und weißen Stöcken kamen tappend heran. “Wir sind Kriegsblinde”, sagte der eine.
“Blind für welchen Krieg?”
“Für den nächsten!”
“Bitte eintreten. Aber das Betasten der Figuren ist verboten!”
“Figuren können wir sehen”, sagte der eine.
“Aber immer!” sagte der zweite. Sie nahmen ihre Brillen ab, klappten ihre weißen Stöcke zusammen und zwängten sich an dem Tischchen vorbei in den Garten.
“Der Eintritt kostet zwei Groschen jetzt und das erste, was euch beim …”, begann die Frau mit der Perücke.
“Wir haben Freikarten”, unterbrach ich sie und hielt ihr die Karten hin.
Sie untersuchte die Karten mit einer Lupe. “Die sind für gestern!” sagte sie. “Wollen Sie warten?”
“Ich glaube, wir haben noch etwas zu tun”, sagte mein Begleiter.
Die Frau ohne Perücke kam mit einer Glocke in der Hand und schlug mit einem Besenstiel daran. “Soeben ist es Gestern geworden. Wir beginnen sogleich mit der Führung. Die Teilnahme an der Führung ist gratis für Inhaber von Vollpreiskarten. Für Inhaber von ermäßigten und Freikarten kostet sie zwei Groschen jetzt und … ”
“Danke, wir brauchen keine Führung.”
Die Frau mit der Perücke schrieb mit Filzstift auf ein Stück Pappe und befestigte das mit Klebestreifen an dem Tisch: “Die Besichtigung des Gartens ist nur im Rahmen einer Führung möglich!”
“Und was ist mit den Kriegsblinden?”
“Die führen einander!”
“Das können wir auch. Komm, führe mich!” sagte ich zu meinem Begleiter, “dann führe ich dich!”
“Ich glaube, wir gehen lieber”, sagte mein Begleiter und zog mich am Ärmel davon, “ich habe keine Lust, geköpft zu werden.”
“Nur gerümpft!” schrie die mit der Perücke. “Den Kopf lassen sie euch!”
“Der Kopf ist das Wichtigste” schrie die andere. “Der Kopf bleibt dran!”
“Nein danke!” sagte mein Begleiter und zog mich weiter.
Die mit der Perücke lief uns nach. “Also kommen Sie schon, wir haben nur Spaß gemacht. Wenn Sie Freikarten haben, ist auch die Führung mit inbegriffen. Nur am Ende der Führung wäre ein kleines Trinkgeld angebracht.”
“Ich weiß schon, zwei Groschen jetzt und das erste, was mir beim Heimkommen entgegenläuft.”
“Was wird das schon sein: ein Hündchen vielleicht oder ein Kätzchen, oder wenn’s hochkommt, eine Ziege, die sich vom Pflock losgerissen hat!”
“Es ist aber immer die Lieblingstochter!”
“Jetzt kommen Sie schon. Zwei Groschen genügen. Oder was Sie halt gerne geben!”
Sie packte meinen anderen Ärmel und zog daran.
Jetzt kam auch die zweite gelaufen: “Gehen Sie nicht weg! Wenn wir Gäste vergraulen, werden wir gerümpft! König Niemand versteht da keinen Spaß!”
“Der hat keinen Humor!” sagte die erste, “überhaupt keinen. Nicht so wie Sie!”
Halb widerwillig ließen wir uns von den beiden in den Garten zerren und schieben.
“Sie haben Glück: Soeben beginnt eine Führung. Willkommen im Garten des König Niemand. Dieser Garten wurde angelegt im Jahre vor unserer Zeitrechnung und diente verschiedenen Herrschern als Jagdgehege und Lustgarten, bis er vor Jahrhunderten vom König Niemand dazu ausersehen wurde, die seltsamen Funde auszustellen, die sie hier ausgestellt sehen.”
“Diese Figuren, stumme Zeugen einer fernen Vergangenheit … ” fuhr die andere fort,
“… beziehungsweise Botschaften aus einer fernen Zukunft – die Wissenschaft ist sich hier noch nicht einig – … ” unterbrach sie die erste,
“… wurden bei Ausschachtungsarbeiten auf dem Uranusmond Oberon zufällig entdeckt, als dort für die dritte Nebengeliebte des Königs Niemand …”
“… der, wie allgemein bekannt, in strenger Einehe lebt …”
“… ein Lustschlösschen als Geburtstagsüberraschung errichtet werden sollte. Der Bau des Lustschlösschens wurde kurzerhand auf den zweitgrößten Uranusmond Titania verlegt …”
“… was allerdings bedingte, den Bau eines Lustschlösschens für die vierte Nebengeliebte des Königs …”
“… der, wie allgemein bekannt, sich ganz dem Zölibat verschrieben hat …”
“.. auf den kleinen Nebenmond Puck zu verschieben. Puck ist zwar klein, doch liegt er direkt am blau leuchten My-Ring des Uranus, der aus feinen Eiskrisstallen besteht, die durch Meteoriteneinschläge vom Eismond Mab abgespalten werden, wodurch Puck als Wohnlage entsprechend aufgewertet und dortige Grundstücke als Anlagewerte im Sinne der Vermögenserhaltung …”
“Sie schweifen ab! Jedenfalls wurde sofort nach dem Auffinden der ersten Bronzeskulptur …”
“… die leider durch Baggerzähne stark deformiert wurde …”
“… was wiederum durchaus im Sinne des unbekannten Künstlers gelegen sein mag, bei der heutigen Auffassung von Kunst weiß man ja nie, wo das Kunstwerk endet und der Heizkörper beginnt …”
“… wurde jedenfalls sofort nach dem Auffinden ein Archäologenteam auf den betreffenden Uranusmond verbannt, um die weiteren Ausgrabungsarbeiten fachgerecht durchzuführen. Die bisherigen Funde lassen vermuten, dass es sich um Überreste einer längst vergangenen Kultur handelt, die auf Oberon ohne die heutigen technischen Mittel der Lebenserhaltung freilich gar nie existieren konnte …”
“… beziehungsweise um Botschaften, die von Zeitreisenden aus der Zukunft …”
“… beziehungsweise der Vergangenheit …”
“… beziehungsweise einer Zeitrichtung, die zu den soeben genannten im rechten Winkel steht …”
“… als Warnung an spätere Generationen …”
“… beziehungsweise als übler Scherz, der frühere Generationen verwirren soll …”
“… beziehungsweise als Modespielzeug für linkere oder rechtere Generationen …”
“… die vielleicht besser als südlichere oder nördlichere Generationen …”
“… oder obere und untere Generationen …”
“… zu bezeichnen wären, hinterlegt …”
“… beziehungsweise hinterlassen …”
“… beziehungsweise vergessen wurden.”
Die beiden schwiegen einen Moment, sahen einander verdutzt an und begannen dann gleichzeitig:
“Als erstes Obje … bitte sprechen Sie!”
“Nein, Sie!”
“Ich lasse Ihnen gern den Vortritt!”
“Ich will nicht unhöflich sein!”
“Als schön, dann eben ich: Als erstes Ob … nein, jetzt müssen Sie mich schon sprechen lassen!”
Nun begannen sie sich voreinander zu verbeugen und einander mit stummen Gesten zu zeigen, dass sie entschlossen seien, auf das Rederecht zu verzichten und es gänzlich der anderen zu überlassen. Um deutlich zu machen, dass sie wirklich nichts sagen wollten, nahmen beide dicke Rollen Klebestreifen aus den Hosentaschen und klebten sich damit den Mund zu. Dann versuchten sie, der jeweils anderen den Klebestreifen vom Mund zu reißen, was in eine wüste Rangelei ausartete. Da trat mein Begleiter dazwischen, deutete auf mich und sagte: “Nun hören Sie schon auf, was soll denn die Dame von Ihnen denken!”
Er klaubte die zu Boden gefallene Perücke vom Boden auf, setzte sie einer der beiden – die ohne Perücke nicht voneinander zu unterscheiden waren, wie ich erst jetzt bemerkte – auf den Kopf und sagte dezidiert: “Sie sprechen jetzt!”
Die beiden tasteten mit den Händen auf ihren Köpfen herum, wie um festzustellen, welche der beiden sie jeweils nun waren. Die perückige nahm die Perücke ab, schaute sie an, klopfte ein paar Blätter und Spinnen heraus, die sich darin verfangen hatten – auch ein Schokoladenkeks fiel heraus, den die andere blitzschnell vom Boden aufklaubte und in die Hosetasche steckte, wonach sie sofort so tat als ob das überhaupt nicht geschehen wäre. Dann setzte die erste, nachdem sie sie noch einmal misstrauisch geprüft hatte, die Perücke wieder auf und begann tatsächlich zu sprechen:

“Als erstes Objekt empfehlen wir Ihrer Aufmerksamkeit diese Darstellung eines Königs. Von Historikern wurde er als der König Hurtig identifiziert, dem die Zeit davonlief, und der sie immer wieder einholen wollte. Und außerdem noch 1632 Problemen nachlief, die er lösen wollte. Aber die ließen sich von ihm nicht fangen.”
“Freilich behaupten andere, dass die Zeit dem König nach- und er ihr davonlief. Beziehungsweise er seinen 1632 Problemen davonlief, die ihn immer wieder einholten.”
“Was, wie wiederum andere behaupten, auf dasselbe hinauslief. Denn Probleme suchen oder vor Problemen davonlaufen läuft auf dasselbe hinaus …”
“… was bedeutet, dass der König Hurtig auf jeden Fall auf dasselbe hinauslief …”
“… wie wir hier im Bild sehen. Sein erstes Problem war ja schon, dass er gar nicht genau wusste, ob er wirklich 1632 Probleme hatte oder nicht eines mehr oder eines weniger. Wäre es eines mehr, so würde ihm ja noch weniger Zeit zur Lösung eines jeden zur Verfügung stehen, und am Ende, wenn er all seine Zeit aufgebraucht hätte, würde ein ungelöstes Problem übrigbleiben …”
“… wäre es aber eines weniger, dann würde ihm doch ein klein wenig mehr Zeit für jedes Problem zur Verfügung stehen, und es wäre doch unverantwortlich, an seine Probleme mit weniger als der größtmöglichen Sorgfalt heranzugehen.”
“Wie aber zählt man seine Probleme? Dazu ist es doch notwendig …”
“… erst einmal die echten Probleme von Scheinproblemen zu trennen. Woran aber erkennt man ein Scheinproblem? Doch daran dass es …”
“… keinen Unterschied macht, ob es gelöst wird oder nicht. Wie aber kann man feststellen, ob die Lösung einen Unterschied macht, ohne das Problem zu lösen und dann den Zustand vorher mit dem Zustand nachher zu vergleichen? Das war also sein zweites Problem. Dann aber mussten auch noch …”
“… die unlösbaren Probleme ausgeschieden werden, denn es wäre doch Zeitverschwendung gewesen, seine Zeit an das Lösen unlösbarer Probleme zu …”
“… verschwenden. Wie aber erkennt man, ob ein Problem unlösbar ist, ohne seine Lösung versucht zu haben? Und wie erkennt man, ob der Grund dafür, dass man ein Problem nicht lösen konnte, der ist, dass das Problem unlösbar ist, oder der, dass man nicht genug Zeit auf seine Lösung verwendet hat? Das also war …”
“… das dritte Problem des Königs. Wie also zählt man seine Probleme, bevor man sie löst …”
“… wenn man sie erst lösen muss, bevor man sie zählen kann? Das war …”
“… das vierte Problem des Königs. Auf die anderen 1628 …”
“… oder 1627 …”
“… oder 1629 …”
“… wollen wir hier nicht näher eingehen, zumal der König …”
“… solange er die ersten vier nicht gelöst hatte, gar nicht daran denken konnte …”
“… die übrigen auch nur anzudenken. Und je mehr Zeit er auf die Lösung der ersten vier verwandte …”
“… um so weniger blieb ihm, wie ihm klar wurde, für die Lösung der übrigen, und um so schneller lief ihm die Zeit davon …”
“… und er ihr nach …”
“… oder sie ihm nach …”
“… und er ihr davon …”
“… denn auch so konnte man die Sache sehen …”
“… beziehungsweise drehen …”
“… wenn man wollte …”
“… bis er schließlich …”
“… so heißt es …”
“… aber auch darin ist sich die Wissenschaft nicht einig …”
“… sich in einem mit unendlicher Geschwindigkeit drehenden Nebel auflöste …”
“… und seine Moleküle, Atome und Quanten nach allen Richtungen davonstoben …”
“… beziehungsweise, wie andere behaupten, in ein schwarzes Loch zusammenstürzten …”
“… in dem, wie wir wissen …”
“… oder zu wissen glauben …”
“… alle Probleme ein Ende haben …”
“… beziehungsweise, wie andere behaupten …”
“… in ewigem Stillstand weiterbestehen …”
“… was …”
“… wie wir wissen …”
“… so ziemlich …”
“… aufs selbe …”
“… hinaus …”
“… läuft …”.

Die beiden schwiegen wieder. Mein Begleiter klatschte lächelnd ein paarmal in die Hände und ich tat es ihm nach.
“Wie gefällt es Ihnen bisher?” fragte die mit der Perücke.
“Oh gut, danke”, sagte ich. “Wirklich sehr gut.”
“Dann folgen Sie jetzt bitte, um die Ausstellung weiter zu besichtigen, einfach den Pfeilen. Hier geht’s lang!” sagte die ohne Perücke und deutete kurz in die Richtung des nächsten Bildwerks, das ein wenig entfernt an einem Teich stand. Dann drehten die beiden sich um und trotteten davon, wobei sie einander gelegentlich mit den Ellbogen in die Rippen stießen. Ob aus Vergnügen über einen gelungenen Scherz oder aus zänkischer Laune, war von hinten nicht auszumachen.

Ein Gedanke zu „Wem gehört dieser Garten?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert